Collage der Extreme
Das Gogol Theater Moskau gastierte im Deutschen Theater Berlin mit »Maschine Müller«
Gastspiel des Gogol Theaters Moskau. Weltberühmt Kirill Serebrennikov. Der machte »Maschine Müller« zu Ehren des großen Heiner Müller für Moskau. Nun kam das Stück an zwei Abenden im Deutschen Theater nach Berlin zurück. Der Regisseur ist hierbei abwesend. Derzeit treten Künstler in aller Welt für ihn ein, weil er einsitzt wegen etwas, das niemand so recht beschreiben kann - es ist ja immer nützlich, die Waage des Rechts in der Schwebe zu halten. Der russischen kapitalistischen Ordnung scheint Serebrennikov unzeitgemäß. Das aber ist für die »freie Welt«, die keine ist, kein Grund, den Mann einzusperren. Unzeitgemäß müssten eigentlich Künstler überall sein. Dreck nämlich überflutet die Schilder der Humanität. Eine Devise Heiner Müllers: an den Kragen denen, die Dreck schleudern! Schärft die Messer! »Ich bin mehr für Explosion, wenn eine Idee in eine Gestalt umgestellt wird«, sagt er.
Schafft »progressives« Volk es nicht, die Heiligkeit der weltweit plündernden, hurenden, mordenden Antihumanisten aus den Angeln zu heben, muss Kunst das Geschäft übernehmen. Wegzaubern lässt sich nichts, geschweige handgreiflich ändern, aber zeigen können Literatur, Malerei, Theater, Musik. Erhellen, desillusionieren. Geröll, Unrat, Niedrigkeit, das Zynische gehören dargestellt. Goyas »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer« brennt vor Aktualität. Die Menschheit steht am Rand. Globale Katastrophen sind denkbar, seit es Kapitalismus, Imperialismus, ökonomischen Wahnwitz, falsche Revolutionen, politische Tollwut, Mordspatriotismus gibt. Wer war sich dessen bewusster als Heiner Müller?
»Maschine Müller« gibt Einblick in die Maschinerien der Menschen - und Weltzerstörung bis in die Zellen menschlicher Beziehungen in ihrer verkrüppelten Form. An die Stelle der einfachen Erfahrung von Freude und Schmerz rückt die Totalität des Unfassbaren: der Mensch als System unkontrollierter Triebe, er, - das Wunder, das Überlegene, das Edle schlechthin (»ein Mensch, wie stolz das klingt«) -, als negatives Naturwesen, das sich selbst an den Hals geht. Weltverneinung auf dem Schlachtfeld der Körperlichkeit. Veitstanz der Extremitäten, der Köpfe und Hirne, der Hälse, der Genitalien, der Gedärme. Der Schoß ist fruchtbar noch.
»Maschine Müller« ist eine vielteilige Collage der Extreme. Bruchstücke aus »Quartett« und »Die Hamletmaschine« figurieren darin wie in einer Druckkammer. Anfangs fällt der Blick ins ranzig-bürgerliche Idyll eines russischen Wohnzimmers, angefüllt mit der Langeweile, wie sie Tschechow und Gorki in ihren sozialen Dramen schildern. Eine Dame spielt Cello, eine Alte liegt in dem schweren Sessel, ein Jüngling stiert auf den Bildschirm. Wie Stehlampe, Tisch, eckiger Kronleuchter eine schweigende, gleichgültige, verlorene Gemeinschaft. Letztes Genügen, bevor das Weltgebäude zusammenstürzt? Es bricht zusammen, so der Tenor. Schnell kommen welche und räumen den alten romantischen Quark weg. An die Stelle rückt eine Gruppe Nackter, Frauen und Männer zu je acht oder je zehn.
Der hochdynamische Komplex kennt keine Einkehr. Ihre Körper pulsieren selbst in Ruheposition, denn das virtuelle Umfeld, die Optik, das, was von außen medial über sie herfällt, hält ihre Körper in Wallung. Blitz und Donner begleiten ihr Taumeln. Während Fabriken, Brücken, Türme auf den Videowänden zusammenstürzen, stolzieren sie gleichwohl, marschieren, fliegen wie Tauben auseinander, sie ducken sich, kriechen, keuchen, geißeln sich, irren wild umher, ringen miteinander, siegen und unterliegen. Erlebbar die Choreografie einer synchronen wie asynchronen, ungelenken wie gelenkigen, geordneten wie chaotischen, schindenden wie geschundenen, züchtigen wie unzüchtigen Kollektivität. Ein choreografische Meisterleistung des Kirill Serebrennikov. Solonummern stehen dem gegenüber. Alexander Gorchlin, bizarr gekleidet, sinniert über die Naturwüchsigkeit des Sklaventums. Den Sklaven hätte es schon immer gegeben. Bissiger Kommentar Müllers zum Neokolonialismus.
Die einzelne Dicke irrt in der Druckkammer wie von der Tarantel gestochen, während die Wände bersten. Denn sie zeigen Krieg. Ganze Städte gehen in Schutt und Asche.
Was ist das, was in uns stiehlt, hurt, mordet? Das fragt Büchner. Und die Inszenierung enthüllt. Es gibt keine fruchtbaren Zweifel mehr, drückt sie aus. Die Dunkelheit der Triebe treibt ins Helle im Angesicht des aufsteigenden Atompilzes. Material aus »Quartett« beschreibt den Geschlechtsakt als irrwitziges Triebgeschehen und Karikatur auf die Auswürfe der Pornoindustrie.
Sati Spiwakowa und Konstantin Bogomolov geben sich als Merteuil und Valmont die Ehre, extremisierte Geschöpfe aus dem Roman »Gefährliche Liebschaften« von Choderlos de Laclos, Ausgeburten, noch ihre Machtgelüste in Triebbefriedigung zu verwandeln und umgekehrt.
Die Dialoge der beiden kommen wie die übrigen Texte des Abends auf Russisch daher, für die der Sprache Unkundigen unter den Zuhörern werden sie in Kopfhörern übersetzt. Von Stufe zu Stufe nimmt der kalte Geschlechterkrieg zwischen diesen beiden stets zynischere und bösere Formen an. Er endet in einer Orgie aus Rotweinregen. Valmont am Spalier der Nackten vorbei wird damit so lange überschüttet, bis er jämmerlich zusammenbricht: ein Akt der Fremd- und Selbstvernichtung.
Dazwischen geschaltet ist in verschiedenen Lagen und Verkleidungen der Countertenor Arthur Vassiliyev, der auch ganz tief singen kann. Er bringt Ruhe in das Spiel. Sein wiederkehrender Lieblingsgesang ist Henry Purcells »Music for a while«, arrangiert von Andrey Polyakov und begleitet von einem Moskauer Ensemble moderner Musik unter seiner Leitung.
Der Tod ist ein Meister in dieser aberwitzigen Müller-Revue. Er ist lebendiger als sein Ruf. Nach Tod riecht es in den Ruinen der einstürzenden Neubauten. Tote ragen, in unregelmäßige Verse gesetzt, aus den Gräbern heraus, verknäult im Geschlechtsakt, und rufen wollüstig um Hilfe. Der Selbstmörder tritt auf (»Todesanzeige«), Text in Gedenken an Heiners Ehefrau Inge Müller, die sich früh das Leben nahm. Mein Kopf ist vor der Gasröhre, das Messer an meine Schlagader. Reines Blut säuft, wer den ökologischen Tod will.
Ein ganzes Zeitalter kommt so in dieser bitteren, allen Optimismus konsequent Lügen strafenden Moskauer Müller-Performance zum Sprechen.
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