Wiederholt sich die Geschichte?

Neu im Kino: »Transit« von Christian Petzold

  • Lesedauer: 5 Min.

Ihr neuer Film »Transit« orientiert sich an dem gleichnamigen Roman von Anna Seghers. Warum haben Sie die Geschichte um einen politischen Flüchtling der NS-Zeit in die Gegenwart verlegt?

Ich wollte keinen weiteren musealen Film in die deutsche Filmlandschaft stellen, mit denen Filmemacher beweisen wollen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Dieses Überlegenheitsgefühl geht mir auf den Sack. Der letzte Anlass für die Aufgabe einer werkgetreueren Adaption war der Tod meines Freundes und Koautors Harun Farouki. Ich konnte mich keine zwei Stunden auf die Arbeit am Buch konzentrieren, ohne an ihn zu denken und in eine melancholische Stimmung zu verfallen.

Warum haben Sie aus dem Werk von Anna Seghers ausgerechnet »Transit« gewählt?

»Transit« gehört ebenso wie Tschechows »Dame mit dem Hündchen« und anderen Titeln zu meinen Lebensbüchern. Ich habe mir oft vorgestellt, wie sich Anna Seghers alleine mit zwei Kindern in Marseille durchschlug. Sie hatte Angst. Trotzdem ist »Transit« niemals verhärtet, sondern ungeheuer phantasievoll und intelligent. Sie hatte das Buch auch vor dem Erscheinen nach Hollywood geschickt, wo es mit Rücksicht auf »Casablanca« abgelehnt wurde.

Dann war die Zeit jetzt reif für die Verfilmung?

Ich bin meinen eigenen Prinzipien untreu geworden. Lieblingsbücher sollten Filmemacher niemals anrühren, das wusste schon Alfred Hitchcock. Er empfahl schlechte Literatur, von der nur der Grundplot übrig bleibt. Ich hasse Literaturverfilmungen, ich meide sie im Kino. Niemand kann ein Buch verfilmen, jede Adaption reflektiert, was die Filmemacher träumerisch und intellektuell verarbeitet haben. Daher habe ich das Drehbuch aus der Erinnerung an den Roman geschrieben und parallel Georg Karl Glasers »Geheimnis und Gewalt« gelesen. Das schöne Deutsch von Anna Seghers habe ich nur für die Voice-Over-Texte genutzt.

Was hat Sie veranlasst, die Arbeit wieder aufzunehmen?

Die Gentrifizierung in Kreuzberg, wo ich wohne. Mieter werden aus ihren Wohnungen geschmissen, damit Fondsgesellschaften in der Ära von Niedrigzinsen Renditen für reiche Anleger erwirtschaften. Vor einem der Häuser war ein Stolperstein im Bürgersteig eingelassen, der an die Familie Feinbein erinnert, die 1943 deportiert wurde und in Auschwitz umgekommen ist. Aus dieser Gleichzeitigkeit entstand die Idee, die Geschichte mit Bezug zur Gegenwart zu erzählen.

Hat Sie beflügelt, dass sich Deutschland im Herbst 2015 endlich der weltweiten Flüchtlingsbewegung bewusst wurde?

Als die Willkommenskultur und die Gegenbewegung begannen, die zu Obergrenzen und Heimatministerien führten, wollte ich das Projekt abbrechen. Kino kann keinen Beitrag zur Diskussion leisten. Wobei Harun und ich mit »Yella« in einer ähnlichen Situation waren. Bankmitarbeiter waren in unserer Jugend die unerotischsten Menschen überhaupt. Mit dem Umbau der Geldinstitute wurden selbst Mitarbeiter der Stadtsparkasse plötzlich sexy. Diese Veränderung interessierte uns. Als der Film fertig war, steckte die Welt in der Finanzkrise. Ich will mich nicht als großen Utopisten sehen. Aber das Kino ist dem Fernsehen manchmal überlegen, weil es tiefer schürft und damit Entwicklungen vorausahnt.

Auch heute läuft die Diskussion um Flüchtlinge oft so formal wie im Film: Erst Papiere machen den Flüchtling zum Menschen. Wiederholt sich die Geschichte?

Heute tauchen die gleichen Sätze wieder auf, mit denen die Verfolgten 1940/41 an der Grenze zur Schweiz oder zum Vichy-Frankreich abgewiesen wurden. Unsere Gegenwart ist sehr viel gespenstischer als die Gespenster der Vergangenheit, die wir im Film sehen. Auch die Brutalität in der Sprache ist wieder aufgetaucht: Deutschland könne nicht das Sozialamt der ganzen Welt sein. Wir wollen Fachkräfte haben, aber keine Analphabeten oder Familienmitglieder. Auch der Asyl-Paragraf wird systematisch ausgehöhlt.

War es nicht auch zynisch, dass sich Vertreter der deutschen Industrie 2015 über die Arbeitskräfte freuten?

Das empfand ich auch so. Wir ziehen die Fachkräfte ab, die woanders ausgebildet worden sind, und wundern uns, dass die Länder vor die Hunde gehen und die Menschen zu uns kommen. Eine absurde Diskussion in Berlin zeigte auch, wie unterschiedlich wir mit den Menschen umgehen. Schüler sollten in den Schulpausen nicht Arabisch oder Türkisch sprechen, damit sie sich besser integrieren. Worauf die Direktorin des Zille-Gymnasiums, das meine Tochter besucht, einwandte, ob die Schüler des Französischen Gymnasiums oder des John-F.-Kennedy-Gymnasiums nicht länger Französisch oder Englisch oder sprechen dürften. Sie sollen es sogar. Wir grenzen nur die Sprache der armen Zuwanderer und der Muslime aus.

Haben Sie nicht befürchtet, dass Sie dieses Grundgefühl der ständigen Bedrohung aus dem Roman bei einer Modernisierung nicht treffen?

Diese Kritik würde ich nie akzeptieren, es ist die klassische, arrogante bundesrepublikanische Einstellung von Menschen, die mit ihrer Wischiwaschi-Sozialisation über das Handeln von Menschen damals urteilt. Es ist auch eine Art Verdrängung. Wenn ich zum Beispiel die Szene im Hotel im Film sehe, in der eine junge Frau von schwer bewaffneten Polizisten weggezogen wird und ihre Kinder schreien, interessieren mich die Gäste, die zuschauen und sich schämen. Sie sind uns sehr ähnlich. Was machen wir im Angesicht von Gewalt? Dieses Ohnmachtsgefühl prägte das Dasein der Verfolgten und vieler Menschen in Marseille.

Bewahren Sie Anna Seghers mit Ihrem Film vor dem Vergessen?

Meine Tochter ist von ihren Romanen begeistert. Seghers ist in der Bundesrepublik nicht gut verlegt worden, weil sie Kommunistin war und nach ihrer Rückkehr aus dem Exil in die DDR zog. Unter den Altnazis in Wilmersdorf fühlte sie sich nicht wohl. Ihr Werk gehörte nicht zum bundesdeutschen Bildungskanon. Wir mussten Grass, Böll und Lenz lesen, obwohl »Das wirkliche Blau«, »Das siebte Kreuz«, »Auszug der toten Mädchen« und »Transit« zur Weltliteratur gehören. Ihre späte Erzählung »Der junge Richter« reflektiert, dass sie im Alter noch mal an sich und an einer Umgebung zweifelt, in der Werner Bräunig, Brigitte Reimann, Christa Wolf und andere Schriftseller in Schwierigkeiten gerieten. Die Literatur konnte sie nicht mehr zusammenhalten.

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