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So ist das im Block
Alles Schläger und Autoschieber? Ein Haus neben der »nd«-Redaktion ist immer wieder in den Medien. Ein Besuch
Als der kleine Elisei mit Schussverletzungen im Bauch ins Krankenhaus gefahren wird, ist sein Onkel Michael* gerade in der Stadt unterwegs. Aufgeregt erzählt man ihm am Telefon, was passiert ist. Ein Mann aus dem Haus, in dem auch Michael mit seiner Frau und den vier Kindern lebt, hat den damals Neunjährigen mit dem Geschoss eines Luftdruckgewehrs getroffen. Elisei wird notoperiert und überlebt. Der Mann, der auf die spielenden Kinder unten auf der Straße schoss, wird verhaftet, gesteht später, dass er über drei Promille intus hatte. Ein Motiv habe er nicht gehabt, er war einfach nur besoffen, sagt er aus. Für vier Jahre geht er ins Gefängnis.
Fast alle Berliner Tageszeitungen, auch das »nd«, berichteten über den Vorfall aus dem März 2015. Zuvor hatte es im Haus schon Stress gegeben. Der Täter, Dariusz B., kam früher als sonst von der Arbeit zurück, lud Kumpels ein, sie hörten laut Musik, die Nachbarn, Leute, die Michael kennt, weil sie alle aus demselben Ort in Rumänien stammen, beschweren sich über die Lautstärke. Die Stimmung ist schlecht, Dariusz B. gereizt.
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Anderthalb Jahre später gibt es wieder Artikel über das Haus, dieses Mal geht es um angeblich illegale Autoschieberei. Aus dem Schuss auf Elisei ist eine Tat unter wild gewordenen osteuropäischen Hausbewohnern geworden. Die Überschrift »1000 Straftaten - das Haus, in dem die Polizei ein und ausgeht«. Michael kennt die Artikel, klar habe er die gelesen, sagt er. »Nichts, was da drinsteht, stimmt«, sagt er, blickt auf seine großen Hände und knibbelt etwas verlegen an seinen Fingernägeln herum. »Es stört mich, dass die Bewohner dieses Hauses wie Schwerkriminelle dargestellt werden. Wir sind normale Menschen, mit normalen Leben«, sagt er.
Auch Daniela Telleis hat sich über die Artikel geärgert. Zusammen mit ihren Kollegen Alexander Rönisch, den alle nur Ali nennen, und Marcel Ramin ist sie seit vier Jahren mit den Bewohnern des Hauses in Kontakt. Die drei arbeiten als Straßensozialarbeiter bei Gangway und sind bei einem Rundgang durch den Kiez auf den Block mit seinen fünf Eingängen und ebenso vielen Stockwerken aufmerksam geworden. Angefangen hat alles mit einer mobilen Fahrradwerkstatt für die Jugendlichen, inzwischen bietet Gangway zweimal in der Woche Beratungssprechstunden in ihrem Büro am Franz-Mehring-Platz 1 an. Vier Jahre haben sie sich mühsam Vertrauen erkämpft, inzwischen fahren sie mit den Jugendlichen auf Ferienfahrten an den Strand, in Leipzig und Dresden waren sie zusammen. »Wir haben viel mit den Leuten, ihren Briefen von Behörden und Ämtern zu tun. Soweit wir das mitbekommen, sind das angemeldete An- und Verkaufgeschäfte« sagt Marcel. Ein paar Bewohner haben sich mit dem Autoverkauf selbstständig gemacht. Auch die Polizei bezeichnet das Haus nicht als Kriminalitätsschwerpunkt. Unter der Woche sieht man die Männer öfter draußen vor dem Block. Die geparkten Autos behandeln sie wie Schätze, die sie waschen und polieren, bis sie glitzern wie Discokugeln. Dem Wohnklotz, der von Betonboden und platt gelaufenen Erdhaufen umzingelt ist, schenken sie ein bisschen Glamour im Königreich der verwaisten Ladenzeilen und Plattenbauten rund um den Ostbahnhof.
Etwa 350 Menschen wohnen in dem Block, schätzt Marcel, fast alle kommen aus demselben Dorf etwa 35 Kilometer nördlich von Bukarest. Ali sitzt vor seinem Computer und fährt mit Google Street View durch Fântânele, 7000 Einwohner, eine Kirche. Entlang der Hauptstraße stehen Obstbäume, hinter denen sich ab und an ein Haus versteckt. Wie Legosteine sind sie in die platte Landschaft gekippt. Ali biegt ab in eine Seitenstraße ganz am Ende des Dorfes, dort bleibt er vor einem gelben Haus stehen und dreht mit der Maus drauf. »Da hat Toma* mal gewohnt«, sagt er. Toma sitzt neben ihm und bekommt funkelnde Augen. »Mein Bruder ist noch dort«, sagt er. Vielleicht kommt er auch bald nach Berlin, dann sind sie zu elft in der Wohnung. Zusammen mit sieben Geschwistern lebt er mit den Eltern im Block. Toma teilt sich mit seinem Bruder ein Zimmer. Die vier kleinsten Geschwister haben einen Raum und zwei Schwestern, 15 und 19, teilen sich das dritte Zimmer. Die Eltern schlafen im Wohnzimmer. »Das geht schon«, sagt Toma. Sie kämen zurecht mit dem Platz. Marcel hat von Familien gehört, die in Schichten schlafen, weil die Betten nicht ausreichen. Wenn die letzten von der Arbeit am frühen Morgen nach Hause kommen und schlafen gehen, machen sich die Kinder für die Kita oder die Schule fertig. Manchmal tragen die Eltern die kleineren schlafenden Kinder in andere Zimmer, wenn die Jugendlichen abends nach Hause kommen. Michael gefällt das Haus, er lebt gerne dort, aber einen Aufzug wünscht er sich. Er wohnt ganz oben im fünften Stock. Am meisten aber fehlt ihm ein Spielplatz für die Kinder. Das Haus ist von zwei stark befahrenen Straßen umgeben, auf dem Gehweg sind Himmel-und-Hölle-Kästchen mit Kreide auf den Boden gemalt. Im Sommer spielen die Kinder eingekesselt zwischen den Autos Fußball. Im Umkreis befinden sich: ein auf ostig gemachtes Restaurant, ein Hostel, ein stillgelegtes Möbellager, Opern- und Theaterwerkstätten, die »nd«-Redaktion und das Berghain. Spielplatz Fehlanzeige. »Das Haus sollte eigentlich zu Jahresbeginn zum Hotel umgebaut werden, kinderfreundliche Infrastruktur war hier nie geplant«, sagt Marcel.
Wenn Toma Hausaufgaben machen will, ist meist Bambule in der Wohnung. Er zieht sich dann in einen Jugendclub in der Nähe zurück, manchmal sitzt er auf den Parkbänken vor dem Redaktionsgebäude. Wenn es nicht anders geht, macht er die Schulaufgaben, wenn alle Geschwister im Bett sind zwischen elf und ein Uhr nachts. Toma sagt wieder, dass das alles kein Problem sei, er komme zurecht. Besser als in Rumänien allemal, wo er jeden Morgen in der Dämmerung loslaufen musste, weil kein Bus und keine Bahn fuhr und die Schule knapp 20 Kilometer entfernt lag.
Fast alle aus dem Dorf sind fromme Christen, sie gehören der Pfingstgemeinde an. Das bedeutet: keine Verhütung, kein Alkohol, keine Zigaretten, Betteln und Klauen sind verboten, Fluchen und Spucken auch. Die Rollenaufteilung in den Familien ist klassisch konservativ. Die Frauen kümmern sich um die Familie und den Haushalt, womit sie den ganzen Tag zu tun haben. Die Männer arbeiten meist auf dem Bau oder, so wie Michael, in der Reinigung und als Pizzabote. Er hat zwei Jobs, um über die Runden zu kommen.
Toma ist 19, kam vor zwei Jahren nach Berlin und geht in die 9. Klasse einer Sekundarschule. Er ist gut, erst letzte Woche hat er in Geschichte eine Arbeit über die Soziale Marktwirtschaft geschrieben und eine Zwei bekommen. Er will den mittleren Schulabschluss schaffen. »Wir wären stolz auf ihn«, sagt Marcel. Toma wäre der erste in seinem Alter aus dem Haus, der einen MSA hat. In Rumänien wollte Toma die Abschlussrede seines Jahrgangs halten. Die Typen, die auf der Schule das Sagen hatten, ließen ihn nicht, weil er, der »Zigan«, nicht auf die Bühne gehört, sagten sie. In der Schule in Friedrichshain kommt er inzwischen klar, aber auch hier gab es am Anfang Probleme. Er sei ziemlich isoliert gewesen, sagt Marcel. Es hat wohl geholfen, dass Toma trotz seiner Erfahrungen Menschen mag und sich nicht einigelt.
An einem Mittwoch im Februar sitzt Toma mit Ali zusammen in der Sprechstunde und hat einen Hefter mit Bewerbungsunterlagen vor sich. Er will ein Freiwilliges Soziales Jahr im Ausland machen. In der Familie macht ihn das zu einem bunten Hund. Männer werden Autoverkäufer. Toma sitzt trotzdem über dem Bewerbungsbogen. »Was können deine Kollegen durch dich gewinnen?« Toma kaut auf einem Bleistift und schaut Ali an. »Also ich bin offen und freundlich zu anderen.« »Ist doch schon mal was«, sagt Ali. Als nächstes soll er aufschreiben, warum er teilnehmen will. »Ich will neue Menschen kennenlernen und mich selbst finden. Ich will klarer sehen, was ich mal sein will«, sagt Toma. Ali unterbricht: »Also wir schreiben dahin: Persönlichkeitsentwicklung.« Toma ist heute nicht gut drauf, er soll sich für ein Land entscheiden und ist sich unsicher. Auf eine vierte Sprache hat er keine Lust. Sprachen sind anstrengend und Englisch macht ihn gerade schon fertig genug. Toma spricht Romanes, die Sprache der Roma, Rumänisch und Deutsch. Spanien wäre noch okay, sagt er, da lebe auch seine Tante.
Während Toma sich konzentrieren muss, um seine Bewerbung auszufüllen, kommen ständig Menschen herein, es ist Mittwoch, der Tag, an dem eine Frau von der externen Schuldnerberatung da ist. Viele im Haus haben Handy- und Stromverträge abgeschlossen, die sie gar nicht verstanden haben, und sollen jetzt zwei Jahre lang 90 Euro im Monat bezahlen. Nach einem halben Jahr sind sie pleite. »Eigentlich sind die Eltern gar nicht unsere Zielgruppe«, sagt Marcel. Gangway macht seit 27 Jahren Straßensozialarbeit mit Jugendlichen, aber der Bedarf an Beratung und Information im Haus ist riesig. »Der Familienzusammenhalt im Block ist stark, wenn wir den Kindern helfen wollen, müssen wir auch die Eltern unterstützen«, sagt Marcel. Was bei Alltagsproblemen anfängt, hört bei Behördenschreiben auf. Von den Älteren sprechen nur wenige so gut Deutsch, dass sie die Briefe verstehen. Wenn eine Familie neu in der Stadt ist, kommen die Kinder anfangs zu den Amtsterminen als Übersetzer mit, weshalb sie in der Schule fehlen. Die Älteren lernen nur mühsam die neue Sprache, weil sie auf Arbeit kaum ein Wort sagen müssen, die Sprachkurse besuchen sie nur selten, weil sie in der Früh- und Spätschicht in zwei Jobs zu tun haben. »An den Strukturen können wir nur wenig ändern. Für uns zählt, dass die Jugendlichen eine Perspektive haben«, sagt Marcel.
Toma gibt auf. Er nimmt seinen Hefter und sagt, er will rüber in sein Zimmer. Morgen gibt es einen Test in Mathe, seinem Lieblingsfach. Eine Zwei will er schaffen.
* Name auf Wunsch geändert
Am 14. April zeigt das Friedrichshainer Gangway-Team um 12 Uhr im Kino Babylon-Kreuzberg (Dresdner Straße 126, Berlin-Kreuzberg) den Dokumentarfilm »Bei UNS ist das so!«, den sie über die Bewohner des Blocks an der Straße der Pariser Kommune gedreht haben.
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