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Glückliche Egomanen
Die Babyboomer haben alles erreicht - genau das macht sie unerträglich
Verfluchtes Glück. Es war einfach verfluchtes Glück gewesen. Erst hatten sie den mörderischsten Krieg der Menschheitsgeschichte verpasst und danach den Hungerwinter 1946/47, in dem der Weiße Tod (Tuberkulose) und Typhus viele dahinraffte. Sie, die Babyboomer, mussten weder Trümmer wegräumen noch Lebensmittel beiseiteschaffen. Die frühen autoritären Adenauerjahre waren ihnen, den zwischen 1955 und 1969 Geborenen, ebenso erspart geblieben wie der Spätstalinismus. Stattdessen erlebten sie die Welt als Ponyhof, auf dem Jahr für Jahr ein paar Kleinpferde hinzukamen.
Das galt nicht nur für die Wirtschaftswunder-Bundesrepublik, sondern in schwächerem Maß auch für die DDR. Der Wechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 war der Startschuss zu mehr Konsum - »Wohlstand für alle« (Ludwig Erhard) in der abgespeckten sozialistischen Version. Der Westen war zwar weiterhin der Klassenfeind, doch zugleich willkommener Belieferer der Intershops. Und wer kein Westgeld hatte, konnte seine Ostmark in die Exquisit- und Delikat-Läden tragen - »man gönnt sich ja sonst nichts«.
So empfanden die Babyboomer hüben wie drüben das Leben als stetige Verbesserung. Sie waren nicht nur die Babys des Booms, nein, sie erfuhren und lebten ihn in ihrer gesamten Kindheit und Jugend: Die Altbauwohnung mit Etagenklo und Kohleofen wurde gegen einen Neubau mit Zentralheizung getauscht, der überfüllte Omnibus gegen ein Auto, der Volksempfänger gegen einen Fernseher. »Vorwärts immer, rückwärts nimmer«, diese Honecker-Parole hätten auch die Babyboomer des Westens sofort unterschrieben. Spätestens, wenn Oma oder Papa von der gar nicht so guten alten Zeit erzählte, wussten sie die Gnade der späten Geburt zu schätzen.
Und das nicht nur in materieller Hinsicht. Mit der Warenpalette wuchs auch das Kulturangebot. 1955, als die ersten Babyboomer auf die Welt kamen, wurde mit »Rock around the clock« auch die moderne Populärmusik geboren - und mit ihr die Jugendkultur. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte waren Teenager mehr als ausbeutbare Arbeitskräfte und Kanonenfutter für die Front. Jung sein hieß plötzlich: Spaß haben. Das Leben wurde zum Wunschkonzert. Im wörtlichen Sinn, weil auch die Musikbranche boomte. Nicht allein im kapitalistischen Westen. Wenn es um Songs und Sounds ging, erreichte die DDR das oft beschworene »Weltniveau«. Manfred Krug evergreente sich durch die internationalen Charts, City und Karat überwanden mit ihren Songs den antifaschistischen Schutzwall, und Frank Schöbel meisterte gar die »Wall of Sound« - sein »Wie ein wilder Stern« hätte auch ein Phil Spector nicht bombastischer hinbekommen.
Und weil zum Pop das Poppen gehörte, wurde die Musik zum Soundtrack eines entkrampften Liebeslebens. Im Westen waren es Kommunen und WGs, im Osten die FKK-Kultur, die den Babyboomern dabei halfen, ihren Körper und den des Gegenüber zu entdecken. Wenn es schon mit der politischen Freiheit nicht klappte (die Jugend der BRD holte sich bei Demos regelmäßig Prügel ab, die der DDR kam erst gar nicht dazu zu demonstrieren), dann wenigstens mit der sexuellen - »Euch die Macht, uns die Nacht!« Und zwar in wechselnden Konstellationen. Da niemand zum Establishment gehören wollte, war es eine Frage der Ehre, nicht zweimal mit derselben zu pennen.
Dass das Gros der Nachtrevoluzzer und Spontis dann doch im Establishment landete, ist eine andere Geschichte. Denn einmal mehr hatten die Babyboomer Glück. Der politische Erfolg der Grünen, die Institutionalisierung und Subventionierung alternativer Bewegungen und soziokultureller Zentren, das Ende des Kalten Krieges, der Fall der Mauer - all dies sorgte dafür, dass auch beruflich viele Karten neu gemischt wurden. Sogar selbst erklärte Staatsfeinde von einst fanden sich plötzlich auf der anderen Seite wieder und stellten fest, dass ein bürgerliches Leben ja eigentlich doch ganz okay war, solange man den SUV für Einkäufe im Biomarkt nutzte.
Damit hatte die Geschichte der Babyboomer ihren triumphalen Abschluss gefunden. Die Glückskinder des zwanzigsten Jahrhunderts hatten in jeder Hinsicht gesiegt. Sie waren gesellschaftlich aufgestiegen, hatten halbwegs Karriere gemacht und waren dabei - so glaubten sie zumindest - moralisch sauber geblieben.
Doch genau darin liegt das Problem jener Generation, die heute in Staat, Wirtschaft und sozialen Organisationen das Sagen hat: Sie hat stets nur die Sonnenseite des Lebens kennen gelernt. Die Babyboomer haben Deutschland als Land der unbegrenzten Möglichkeiten erfahren, in dem ein studentischer Tellerwäscher vielleicht nicht immer zum Millionär, aber immerhin zum Leiter einer Tagesförderstätte aufsteigen kann. Anders als ihre Eltern und Großeltern haben sie Krieg, Hunger und Not nie am eigenen Leib erfahren. Ihnen fehlt das Vorstellungsvermögen, dass es mitten in Deutschland Menschen gibt, an denen der Wohlstandszug vorbeigerauscht ist. Da die Babyboomer immer Gewinner waren, kommen Verlierer in ihrem Weltbild nicht vor.
Schon gar nicht die vor der eigenen Haustür. Selbst wenn sie in Berlin leben, ist ihnen New York näher als Neukölln. Stets schweift ihr Blick in die Ferne. Zwar ist ihnen, den fleißigen Flugmeilensammlern, bewusst, dass es ein guatemaltekischer Kaffeebohnenpflücker schwerer hat als sie (weshalb sie den teuren Fairtrade-Kaffee trinken, der nicht nur besser für den Magen, sondern auch gut für das Gewissen ist), doch vor Ort hört ihr Interesse an prekären Verhältnissen auf. Die weltbereisten Babyboomer wissen mehr über das Problemland Haiti (Karibik) als über den Problemstadtteil Hasenbergl (München).
Ihre Kontakte mit der heimischen Unterschicht beschränken sich auf Comedysendungen mit Cindy aus Marzahn. Dann dürfen sie endlich - frei von den Zwängen politischer Korrektheit - die Assis und Prolls auslachen. In solchen Momenten zeigen die Babyboomer ihr wahres Gesicht: Sie, die Besitzer des Ponyhofs, schauen vom hohen Ross auf die Bewohner der Hartz IV-Gettos herab. All ihr Gerede von einer »gerechteren Welt« vermag die eigene Selbstgerechtigkeit nicht länger zu verbergen. Und mit einem Mal erscheint das Glück, das dieser Generation ihr Leben lang treu blieb, tatsächlich als Fluch.
Der Autor ist Publizist, Poetryslammer und Werbetexter - und erblickte 1967 im beschaulichen Trier das Licht der Welt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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