Münster bewältigt die Amokfahrt

Ermittler haben keine Hinweise auf politisches Motiv / Trotz der Tat herrscht am Rande der Altstadt Feierstimmung

  • Sebastian Weiermann, Münster
  • Lesedauer: 4 Min.

Samstagnachmittag um 15.27 Uhr: Die Altstadt von Münster ist gut besucht. Es ist das erste warme Frühlingswochenende in Westfalen. An der Kiepenkerl-Statue sitzen die Menschen schon draußen und genießen den Tag. Diese Idylle wird durch Jens R. durchbrochen. Mit einem Bulli rast er auf den Platz. Der Mann tötet dabei zwei Menschen und verletzt mehr als 20 weitere, von denen sich mehrere noch in akuter Lebensgefahr befinden.

Nachdem er in die Menschenmenge gerast ist, erschießt Jens R. sich selbst. Der 48-Jährige stammt aus Olsberg im Sauerland. Seit Jahren lebt er in Münster. Der Täter wird als »psychisch labil« bezeichnet. Die in Münster erscheinenden »Westfälischen Nachrichten« berichten, er habe sich am 29. März per E-Mail »von allen Bekannten verabschiedet«. Das Blatt berichtet außerdem, bei einer Durchsuchung in seiner Wohnung seien »Hinweise auf einen rechtsextremen Hintergrund« gefunden worden. Auch von Kontakten in das rechtsextreme Spektrum wird berichtet.

Jens R. soll insgesamt über vier Wohnungen verfügen. Zwei davon befinden sich demnach in Ostdeutschland. Kennern der Neonazi-Szene in Münster und dem Sauerland ist Jens R. allerdings nicht bekannt. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sei das Motiv »in der Person des Täters« zu suchen. Ein politischer Hintergrund sei unwahrscheinlich. Gegen R. sei in den letzten Jahren in mehreren Fällen wegen kleinerer Delikte ermittelt worden. Die Verfahren wurden allerdings allesamt eingestellt.

Nach der Tat herrscht Panik in der Altstadt. Augenzeugen berichten, dass schreiende und weinende Menschen aus dem Bereich um den Kiepenkerl geflohen sein. Menschen sollen geschrien haben: »Da ist Terror!« Gerüchte über zwei weitere Männer, die aus dem Wagen gesprungen seien, machen die Runde. Die Polizei sperrt den Bereich um den Tatort weiträumig ab. Sie vermutet eine Sprengfalle, weil Drähte in dem Wagen zu sehen sind. In einem Radius von mehreren hundert Metern um den Tatort wird die Altstadt abgeriegelt. Zivile, vermummte Polizisten mit Sturmgewehren sind zu sehen. An den Straßen, die aus der Altstadt führen, stehen Bereitschaftspolizisten. Viele von ihnen tragen schwere schusssichere Westen und Maschinenpistolen. An diesem Szenario ändert sich auch fast die ganze Nacht lang nichts. Bis zum frühen Morgen bleibt die Altstadt gesperrt. Für Anwohner gibt es ein Notquartier.

Dieses Notquartier ist eines von der edleren Sorte. Wer nicht nach Hause kommt, kann den Abend im Theater verbringen. Die apokalyptische Tanzvorführung »Hold on« muss allerdings ausfallen. Im Theater kommen Polizeiseelsorger aus ganz Nordrhein-Westfalen und Betreuer von Hilfsorganisationen zusammen. Für eine warme Suppe und Kaffee wird schnell gesorgt. Ein Polizist aus Steinfurt erzählt am frühen Abend, dass kaum etwas los sei im Theater. Erst wenige Anwohner seien dort gewesen. Manche seien schnell wieder gegangen, um den Abend in einer Kneipe oder einem Restaurant zu verbringen.

Wie voll die Kneipen und Restaurants am Abend sind, ist auffällig. Wer eine Stadt in Schockstarre erwartet hat, der wird überrascht. In Kneipen entlang der Altstadt wird das Bundesliga-Spiel zwischen dem Hamburger SV und dem FC Schalke 04 übertragen. Beim zwischenzeitlichen Ausgleich von Schalke wird in der Bar »Metro« gejubelt. Nach dem Tor erzählt ein junger Mann, dass seine Freunde und er erst zu Hause bleiben wollten. Als allerdings immer mehr darauf hindeutet, dass es sich nicht um einen islamistischen Anschlag handele, habe man sich umentschieden.

Auch andere Menschen berichten, dass die Stimmung sich geändert habe, als klarer wurde, dass es »sich nicht um einen Terroranschlag gehandelt« haben soll. Nach einem Aufruf des Uniklinikums sammeln sich Menschenschlangen vor der Klinik. Sie wollen Blut spenden. Nach kurzer Zeit rief das Klinikum den Aufruf aber wieder zurück. Es seien viel mehr Spender da, als man überhaupt betreuen konnte. Gleichzeitig wurde für die »überwältigende Unterstützung« gedankt.

Auf wenigen hundert Metern liefert Münster am Abend der Amokfahrt gegensätzliche Bilder. Da ist einmal die abgesperrte Innenstadt, die von schwer bewaffneten Polizisten abgesperrt ist. Dort sind die Fenster dunkel und Spezialisten versuchen stundenlang herauszufinden, ob sich eine Sprengfalle in dem Tatfahrzeug befindet. Und am Rand der Altstadt herrscht hingegen Feierstimmung. Viele Menschen sind, mit einem Getränk in der Hand, draußen unterwegs. An anderen Orten ist der Anschlag allerdings das erste Thema. Im Theater haben sich am späten Abend doch viele Altstadtbewohner eingefunden. Mit einer Linsensuppe in der Hand stehen zwei von ihnen vor dem Theater. Gekannt haben sie sich vorher nicht. Sie rätseln darüber, wann sie wohl wieder in ihre Wohnungen können. Sie äußern aber gleichzeitig großes Verständnis dafür, dass die Polizei vorsichtig vorgeht. Am Morgen um halb fünf können die Menschen zurück in ihre Wohnungen.

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