- Politik
- Attentat auf Rudi Dutschke
Der Massen-Mord
Was Josef Bachmann am 11. April 1968 erschoss
Es gibt Fragen, die auch der freundliche Dr. Dobler von der Polizeihistorischen Sammlung Berlin nicht beantworten kann. Wie viele Schüsse etwa gab Josef Bachmann am 11. April 1968 eigentlich ab? Drei Kugeln - so heißt ja auch Wolf Biermanns zeitgenössisches Anklagelied, trafen Rudi Dutschke, der später an den Folgen starb. Doch liegen in der Vitrine von Doblers kleiner Ausstellung zum 50. Jahrestag des Attentats insgesamt fünf Projektile. Ein viertes fand sich nämlich am Tatort, ein weiterer Splitter in Dutschkes Mantel.
Auch zum notorischen Münchner »Blutostern« weiß Dobler nichts Neues. Im Gegenteil: Dass dort drei Tage nach dem Attentat der 32-jährige Fotograf Klaus Frings und der 27-jährige Student Rüdiger Schreck unter nie ganz geklärten Umständen - Steinwürfe oder Polizeiknüppel? - während einer Demo starben, habe er bis vor Kurzem gar nicht gewusst. Das erstaunt etwas in diesem Rahmen.
Berlin. Der Studierendenverband »Die LINKE.SDS« ruft in einer am Mittwoch veröffentlichten Erklärung für ein »neues 68« auf – »feministisch, antirassistisch und von unten«. In dem Text heißt es unter anderem: »1968 hat die Welt rebelliert. Gegen die kapitalistische Herrschaft, gegen ihre imperiale Verwüstung, gegen ihren Rassismus und ihre Geschichtsverdrängung – 2018 machen wir es uns zur Aufgabe, erneut zu rebellieren: gegen die Unterdrückung und Ausbeutung, gegen das System.«
Der Satz »Geschichte wird gemacht« ist zum einen der Abschluss des Aufrufes, zum anderen auch das Motto eines vom SDS geplanten Kongresses. Vom 7. bis 9. Dezember soll in der Berliner Freien Universität über die verschiedenen Perspektiven auf 1968, die politischen Erben und neue Hoffnungen diskutiert werden. Eine Teilnahme zugesagt haben bisher Alex Demirovic, Gretchen Dutschke und Frank Deppe. Über 100 Veranstaltungen sind angekündigt. nd
Dann stellt der Polizeihistoriker eine geschichtspolitische Erwägung in den etwas angestaubten Raum am Platz der Luftbrücke. Es sei schon richtig, sagt er den Presseleuten, die sich derweil über die Originalprojektile beugen, dass es im Vorfeld des 11. April viel »Hetze« gegen die Revolte gegeben habe. Nicht nur Springers Boulevardblätter, sondern auch der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) hätten sich zu Äußerungen verstiegen, die der Attentäter als Zuspruch auffassen konnte. Doch müsse mehr beachtet werden, dass Bachmann eben Neonazi war. Wird bis heute übersehen, dass es schon damals Rechtsterroristen gab, die dem »System« nicht anzulasten waren? Ist diesbezüglich auch die Linke, die bis heute Springer und den Staat zu Mit- bis Hauptverantwortlichen erklärt, »auf dem rechten Auge blind«?
Damit greift Dobler einerseits eine Rhetorik auf, die rund um das Attentatsjubiläum von 2008 besonders in Springer-Blättern stark gemacht wurde: Auch auf Basis von MfS-Vermerken hatte sich gezeigt, dass Bachmann enger mit der extremen Rechten verbunden war, als seinerzeit »ermittelt« wurde. Er war wohl nicht nur ein von »Bild« spontan verhetzter »Verwirrter«.
Deshalb ist nun keineswegs die Rolle des Springer-Verlages neu zu bewerten. Es wäre vielmehr an der Zeit, dass derselbe 50 Jahre später endlich zu einer Selbstkritik fände. Doch hat dieses Argument in einem allgemeinen Sinn durchaus seine Berechtigung: Dass Bachmann bei seiner Verhaftung einen Artikel der »National-Zeitung« bei sich trug, war ja zeitgenössisch bekannt - und doch wurde nie primär die radikale Rechte zum Ziel der Empörung.
In der Rückschau ist das tatsächlich erstaunlich. Schließlich ereignete sich das Attentat, was heute oft vergessen scheint, inmitten eines Aufschwungs der NPD: Vier Jahre nach ihrer Gründung saß diese 1968 in jedem zweiten Landesparlament und tobte geradezu gegen die APO. Deren Anführer aber scheinen die radikale Rechte nie wirklich ernst genommen zu haben.
Augenfällig wird dies etwa in den rührenden Briefen, die Dutschke - vorerst dem Tode knapp entronnen - dem Attentäter ins Gefängnis schickte. Er sprach Bachmann als Opfer der Verhältnisse an und versuchte sogar, ihn zu agitieren: »Schieß’ nicht auf uns, kämpfe für Dich und Deine Klasse!« Bachmann entschuldigte sich für die Kugeln, beharrte aber auf seinem Hass, worauf Dutschke ihm noch einmal schrieb: Er glaube ihm nicht einmal, Faschist zu sein.
In der Umarmung desjenigen, der ihn verriet, zeigt sich Dutschkes christliche Prägung. Er war vor allem ein radikaler, auch messianischer Menschenfreund. In dem Versuch, den Attentäter zur Revolution zu überreden, scheint aber auch durch, wie wenig sich Dutschke und viele Weggefährten den Neonazismus paradoxerweise - trotz nämlich aller Abscheu gegenüber den »alten Nazis« - als eigenständiges Phänomen vorstellen konnten.
Da dieser »objektiv« das »System« sichert, indem er gegen dessen Herausforderer wütet, musste er auf dieses rückführbar sein: auf »autoritäre« Institutionen wie Familie, Erziehung, Universität, Militär und so weiter. Als ehemaliger Hilfsschüler, Hilfsarbeiter und Kleinkrimineller hatte nun Bachmann dieselben beispielhaft durchlaufen. Er erschien daher in der Optik der »Randgruppenstrategie«, wie sie etwa in der »Heimkampagne« verfolgt wurde, als potenziell ideales Revolutionssubjekt. So waren Bachmanns Kugeln auch ein Anschlag auf bestimmte funktionalistische Erklärungen des Rechtsradikalismus, die in der APO verbreitet waren.
Aber auch, wenn man seine Tat nicht als spezifisch faschistisch, sondern »nur« als Resultat der Springer-Kampagne wertet, widerlegte sie einen Kernbestand »spontaneistischer« Revolutionstheorien, der sich auch bei Dutschke findet. Denn dieser verließ sich im Grunde auf die Instinkte der »Massen«, die durch praktische, aktionistische Aufklärung freizulegen seien. Die »Minderheitsherrschaft« des ausgehöhlten Spätkapitalismus stehe längst auf tönernen Füßen. Seine Führungscliquen könnten es sich gar nicht mehr erlauben, die »Massen« zu mobilisieren: Liefen sie dann doch Gefahr, eine spontane Dynamik auszulösen, die »in letzter Konsequenz auch Hand an die Herrschaft des Kapitals« lege.
Auch diese Idee hat Bachmann symbolisch erschossen - als Vollstrecker des Massenhasses auf Revoluzzer, der sich Mitte Februar 1968 auf zwei in Berlin von Senat und Springer mobilisierten Großkundgebungen entladen hatte. Diese drohten keineswegs, ins Antikapitalistische umzuschlagen, sondern einen Passanten zu lynchen, der Dutschke ähnelte. Die Polizei verhinderte dies.
Insofern war das Attentat auf Dutschke ein Massen-Mord: Ein Mord an den »Massen« als »natürliche«, stets gegebene Bezugsgröße revolutionärer Bestrebungen. Dass in den 1970ern hermetische »Avantgardeparteien« an die Stelle der Spontaneisten traten, war eine Folge dieser Erfahrung, auch wenn diese nicht allzu explizit diskutiert wurde.
Lässt sich das nun - die parallelen Umstände von parlamentarischer Polarisierung bis Großer Koalition legen es nahe - auf heute übertragen? Sprechen Bachmanns Schüsse gegen jede Vorstellung einer »neuen Klassenpolitik«, die aktuell diskutiert wird? Sie machen zumindest deutlich, dass »abholen« so etwas wie »Hegemonie erringen« heißen muss und nicht nur »nach dem Munde reden«. Doch andererseits war mit dem Spontaneismus praktisch eine bestimmte Art von Lebensstilpolitik verbunden, die gleichfalls als gescheitert gelten muss - wenn auch in einer anderen Art. Die heutigen Lektionen aus Bachmanns Attentat sind also widersprüchlich und beschränkt.
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