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Historienthrillerkuttelsuppe

In der Netflix-Serie »The Alienist« sucht Daniel Brühl einen Kindermörder

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 3 Min.

Innereien sind nicht jedermanns Sache. Bereits im Angesicht einer Blutwurst kommt vielen der Leberknödel hoch. Wer empfindlich auf solch Gekröse reagiert, sollte bei »The Alienist« also besser einen Eimer bereithalten. Im Topf der Netflix-Serie landet nämlich nicht die Niere eines Schweins, sondern die eines Jungen, der im New York des späten 19. Jahrhunderts ausgeweidet wurde. Kein Anblick für Zartbesaitete. Umso genüsslicher zoomt die Kamera zuvor seelenruhig zum Kopf des Kindes und fährt durchs leere Loch der Augenhöhle zur Hölle. Die heißt Fin de Siècle - zumindest als Ort moderner TV-Unterhaltung ein grässliches Zeitalter.

Jakob Verbruggens Romanadaption entführt uns an einen Schauplatz, der nur im Groschenroman oder im ZDF-Melodram noch romantisch sein darf. Die Großstadt des Jahres 1896 hingegen blutet, stinkt, lärmt und leidet aus jedem Morast, der sich Straße nennt. Und er wird sogar noch furchtbarer, wenn jeder Hoffnungsschimmer darin versinkt wie Nieren in der Kuttelsuppe. Nach dem Leichenfund ist daher nicht die mafiöse Polizei an der Klärung des Mordes interessiert, sondern die Titelfigur: Lazlo Kreizler. Ein Nervenarzt, der wegen seiner Suche nach dem entfremdeten Geist Wahnsinniger auf Englisch »Alienist« heißt.

»Heute würde man ihn als Kriminalpsychologen bezeichnen«, beschreibt der deutsche Weltbürger Daniel Brühl seine bislang größte Rolle auf dem globalen Parkett. Im Kampf gegen das Böse stehen ihm nur zwei Verbündete bei: der Presseillustrator John Moore (Luke Evans) und die Polizeisekretärin Sara Howard (Dakota Fanning). Je tiefer das Trio in den Fall eintaucht, je mehr Prostituierte sterben (wie der mädchenhaft gekleidete Stricher zu Beginn), je weniger die Staatsmacht dagegen tut, desto deutlicher wird Brühls Figur vom Beobachter zum Beteiligten. »Weil er in seinem Leben viel Schmerz erlitten hat«, verstehe man aus Sicht des Hauptdarstellers besser, »warum Laszlo Kreisler so besessen davon ist, den Killer zu finden«, erklärt Brühl.

Diese rauschhafte Verbissenheit spielt er mit der glaubhaft selbstgerechten Aura eines Mediziners, der sich schon kurz vorm Durchbruch von Freuds Psychoanalyse ins Innerste menschlicher Seelen wagt. Was ihn dazu gebracht hat, bleibt, wie bei so vielen der Charaktere, zwar leider meist an der Oberfläche. Die jedoch ist von einer Detailverliebtheit, der man manche Effekthascherei nachsieht. Huschende Schatten sind geräuschvoll und Verbrecherblicke verschlagen, Tote werden nur nachts exhumiert, wobei es das Tageslicht sowieso nur dann in die Stadt schafft, wenn es durchs Kellerfenster in die Irrenanstalt dringt, während vor der Tür nicht nur notorisch morbide Stimmung, sondern auch ewig mieses Wetter herrscht.

Soziokulturell hat dieser Hang zum ungeschönten Historytainment Gründe. Im hygienisch-juristisch-gesellschaftlichen Desaster neueren Datums von »Charité« über »The Knick« bis »Babylon Berlin« darf sich das Publikum anders als bei der vormodernen »Wanderhure« der eigenen Behaglichkeit versichern; zugleich erfährt es mit etwas Grusel, wie dünn der zivilisatorische Firnis sein kann, wenn selbst New York nur 122 Jahre zuvor so ein Höllenloch war - wenngleich die Wohlstandsunterschiede darin zusehends denen von heute gleichen. Den grotesken Gegensatz zwischen oben und unten verkörpert niemand besser als Sara Howard.

Als Kind des gehobenen Bürgertums ist sie die erste Frau im Polizeidienst, wo sie den Dreck der Straße ebenso wie die Macht der Männer spürt. Dakota Fanning spielt die Feministin der ersten Stunde nicht mit plumper Renitenz, sondern mit feiner Selbstbehauptung. Eine Wimper vom blutigen Finger des kriminellen Cops Connor (David Willmor) zu pusten, verweigert sie mit wortloser Nervosität, aber beharrlich. Mehr kleine Gesten dieser Art stünden der Mixtur aus Sherlock Holmes und Gangs of New York daher besser zu als noch ein blutiges Stück Menschenfleisch am Haken. Ansehnlich ist beides.

Ab 19. April auf Netflix

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