Wunderbar ausweglos
»Der Fortführer« - das neue Buch von Botho Strauß
Wer sind wir? Wir sind »Auffassungstoren, da und dort einen goldenen Zierrat erwischend, fast immer ihn verfehlend«, und dennoch tun wir, »als ob - wir wüssten.« Den möchte ich sehen, der so einem Satz, im ehrlichsten Selbstgespräch, nicht zustimmte. Eine Sekunde freiwilliges Selbsterschrecken vorausgesetzt.
Eine Notiz von Botho Strauß. Wo andere von Hoffnung sprechen, redet er von Unsicherheit; wo andere um Bündnisse ringen, preist er die geistige Hermetik; wo andere ihr eigenes und das fremde Denken gern mit politikbetrieblichen Definitionen bestempeln, da steht er - mit Lust auf mythische Unfassbarkeiten - im Freien. Vielleicht unter »vögelsprudelnden« Bäumen. Dort, wo Denken nicht Anwendung, nicht politisches Bekenntnis, nicht gesellschaftlicher Part werden will, sondern hochmütige Verlorenheit bleibt - und wo der Dichter also nicht belangbar ist, so sehr man ihn auch unter Dünkelverdacht stellt.
»Der Fortführer« heißt der neue Band von Strauß - wieder Aphorismen, Denkbilder, Reflexionen, Beschreibungen. Schneidend scharf in der Analyse unserer flachen Gesellschaft, dann wieder traumwandlerisch schön in der schwebenden Stimmung, schwärmend auch im romantischen Ungefähren. Schweifungen, Sandmalereien, Schattenlinien, Bewusstseinspartikel. Herz- und kopfhorchende Stenogramme; Geschehnisse, die sich nicht fügen und doch zusammenhängen. Aufblättert sich so der spielerische, elegische, nicht vollendbare Roman eines philosophischen Denkens wider die Plapperei der gelösten Zungen - diesem Zeitzeichen epidemischer Unterhaltsamkeit. »Menschen, die zu allem ein gesundes Urteil haben, ahnen gar nicht, wie ein Urteil beschaffen sein muss, um Bestand zu haben: dass es nämlich zuerst unter Zähneklappern, zitternd und fiebernd durch den Eiswald der Sachverhalte irren muss, um zu sich zu finden.«
Mit diesem Buch befestigt Strauß seinen Ruf als brillanter Erfinder von Geistesblitzen. Er findet Worte, die in den Weltraum passen - wo es keine engende Zeitrahmen gibt. Der Autor arbeitet gleichsam, im unentwegten Wechsel, mit Fernrohr und Mikroskop. Ein Gulliver der besonderen Art, der durch Nervenbahnen zu ziehen scheint, um im nächsten Moment aus fernster Galaxis auf den Menschen herabzuschauen. Heißestes Bemühn beim kalten Blick. Immer auch auf sich selbst gerichtet. Und sehr genau in der Beschreibung unserer traurigen Gewohnheit, Leben zu versäumen: »Wie sich für den Winter rüsten? Seine ständige Sommersorge.«
Der Fortführer. Er setzt fort, was ihn an ein geistiges Erbe bindet, und er führt so auch den Leser fort. Dorthin, wo man leben darf in Berührung mit dem eindringlichen Ton vergessener Dichter, diesem Sirren der Sirenen aus Frühe und raunendem Nochfrüher. Konrad Weiss, Cristina Campo, Albrecht Schaeffer, Rudolf Borchardt. Du liest das wie unter einem Regen, der dich reinwäscht vom falschen Wichtigkeitsgefühl und vom Klebstoff Gegenwart. Du vernimmst Töne eines Utopisten im rückwärtigen Dienst. Vergangenheitsgelüst ist freilich nicht als restaurative geschichtliche Beschwörung zu verstehen, sondern als Aufruf dessen, was wir als ewigen Haushalt der Gestimmtheit, der Erinnerungswürde in uns tragen. Lieber behutsam altgierig als nur immer forsch neugierig.
Mit der Kraft eines Stolzpanzers (der aus dem zarten »Blütenstaub« des Novalis gemacht scheint) behauptet Strauß seine Spiritualität. All das, worüber er suchend, fragend melancholisch, heiter sarkastisch, auch zweifelnd sinnt - es gehört nicht zum zerlutschten Repertoire dessen, was in den Medien ständig irgend einem Diskurs zum Fraß hingeworfen wird. Alle Meinungen zählen, ja, aber keine hat recht. Es gibt für Strauß kein Heil, aber es gibt Heilsamkeit: noch auf anderes zu vertrauen als einzig auf die Helle unseres Bewusstseins; es geht darum, die Konsequenzen unseres aktiven, Wissen schaufelnden Verstandes immer auch ein Gutteil zu fürchten: »Warum gibt es keine Verbindung (Nährstränge) von den Klugen zu den Dummen? Weil die Dummen emanzipiert sind, die Klugen aber nicht.«
Erneut denkt Strauß über Paar-Beziehungen nach. Kaum einer hat sie auf dem hauchdünnen Eisgrund bürgerlicher Sicherheiten bislang so kaltleuchtend, so ironisch irrlichternd erfassen können wie er. Nähe, also jene Sehnsucht, die Menschen zueinander treibt - sie bleibt dem Dichter ein großer, untilgbarer Widerspruch. Nähe ist das eigentliche Tor zur Fremdheit, denn einen anderen Menschen zu erkunden, ihn zu erfahren, gar zu erkennen, und sei es fragmentarisch - das ist der Eintritt in Untiefen. Je tiefer man einander vertraut, je vertrauter man sich ineinander vertieft, desto unergründlicher gerät alles. Von der Liebe kann man vieles erwarten, aber ein besseres Leben erpressen kann man von ihr nicht.
Allem Eindeutigen, jeder Konsenstrottelei widerspricht der Dichter. Speziell in diesem Punkt ist er spätestens seit seinem Essay »Anschwellender Bocksgesang« vor 25 Jahren zum Angriffsziel einer linken politischen Korrektheit geworden, die nicht damit klarkam, so sein damaliger Hanser-Verleger Michael Krüger, dass da einer »alle ideologischen und weltanschaulichen Linien durchkreuzt« und just durch seine »konzentrierte Wahrnehmungsintensität in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit einmalig geblieben ist«.
Weil Strauß sich vor geraumer Zeit elegisch als »letzten Deutschen« glossierte, wurde er einmal mehr zum Rechten gestempelt. Der plumpe Reflex aus der Einbahnstraße - denn schlug man ihn in gleicher Schnelligkeit anerkennend zum Antifakämpfer, nur weil er »von der Köterspur des Rassismus samt seiner xenophoben Abarten« schrieb? Im neuen Buch geht er noch einmal darauf ein: »Die Aufgabe ist so leicht zu umreißen, wie sie schwer zu bewältigen ist: die Zeichnung des letzten Deutschen als Phänotyp. Er ist weder Chauvinist noch völkisch gesinnt. Ist hörig allein seiner Muttersprache. Er ist auch nicht wegen der Einwanderer und Fremden so letztlich. Sondern weil neben ihm, unter seinen Landsleuten, keiner ähnlich angebunden und angestammt lebt.« Da will einer tief, tiefer ins Deutsche hinein, das es nicht mehr gibt. Siehe die unterm Zeitstaub vergrabenen Dichter. Deutscher Sprachschatz! Sprachliebe! Sprachkunst!
Goethe nannte die französische Revolution »das schrecklichste aller Ereignisse«. Wenn er »zu wählen hätte zwischen Gerechtigkeit und Unordnung einerseits und Ungerechtigkeit und Ordnung andererseits«, so der Minister aus Weimar, würde er sich stets »für das letztere entscheiden«. Hui, würde mancher Derzeitige zetern, was für ein politischer Finsterling! Wird er dadurch weniger, was er bleibt: Goethe? Gelobt seien deshalb Klopfzeichen, wie sie Strauß sendet; sie machen aufmerksam auf Befangenheiten und Erstarrungen im Lagerdenken. Dies hilft unerwarteten Gedanken und Perspektiven auf die Sprünge und säubert sie - in kunstverschraubten Formulierungen - von Schlacken verödeten Ausdrucks.
Zornig und zart ist der Autor beim Genuss des »Unverstehens« zwischen Traum und Wirklichkeit. »Man war doch sein Lebtag im Ausweglosen unterwegs.« Und der hundertprozentig Progressive ist doch, wie sein konservativer Feindbruder, nur ein Phantom. Die mentale politische Landkarte des Menschen ist nicht einfarbig, sei es rot oder sonstwie, sondern scheckig wie ein Flickenteppich - jeder hat exzentrische Kleckse, Leerstellen der Ignoranz, Grauwerte der Gleichgültigkeit. Vor allem: Grünpunkte der Hoffnung, beim eigenen Standpunkt stets auch einen Widerpart mitdenken zu können. Das wahre Revolutionäre beginnt wahrscheinlich dort, wo ein enorm Aufgebrachter radikale Fragen aufwirft und einem äußerst Aufgeräumten die Antworten überlässt.
»Was wird in einem Zeitalter empfunden werden, in dem sich die ›Kommunikation‹ erschöpft hat?« Strauß setzt darauf, dass sich auch das jetzt herrschende System in seiner Innovationshysterie erschöpft und es irgendwann zur Ruhe einer Rückwendung kommt. Die vielleicht nur immer eine geträumte war. Denklandschaft nur - das Unerreichbare, das Unpraktische, der Spielort des höheren Bewusstseins. »Ist nicht alles wie nie?«
Die Wege eines Fortführers. »Nie habe ich mitten im Leben gestanden. Wo mag das sein?« Standort des Dichters Botho Strauß ist bei den Rissen, durch die man hineinsehen kann in den Abgrund von Entfernung und Ewigkeit. Trost? Ja, denn es gibt »noch immer mehr Betörendes als Erklärliches auf der Welt. Die Schleier werden nicht weniger, sie zerreißen nicht, die meisten fallen auf uns herab wie leichte Matten von Schnee; unter Schleiern begraben verstummt das Gescheite.«
Botho Strauß: Der Fortführer. Rowohlt, 203 S., geb., Leinen, 20 €.
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