- Politik
- Sterben im Mittelmeer
Politik macht es den Seenotrettern immer schwerer
Hilfsorganisationen beklagen zunehmende staatliche Repression und fremdenfeindliche Stimmung
Rom. Etwa 130 Migranten sitzen in einem Gummiboot. Es sind wie immer Schwangere darunter, Kinder und Babys. Sie wollen weg, endlich Folter, Vergewaltigungen, Hunger und Hoffnungslosigkeit in Libyen hinter sich lassen. Ein europäisches Rettungsschiff nähert sich. Und auch die libysche Küstenwache. Mann für Mann, Frau für Frau, Kind für Kind wird verhandelt: Wer darf in Richtung Europa, wer muss wieder zurück in die libysche Hölle? Am Ende fährt das Schiff »Aquarius« der deutsch-italienisch-französischen Organisation SOS Mediterranee mit 39 Frauen und Kindern Richtung Europa, der Rest hat es nicht geschafft.
Familien werden zerrissen. Ein »Horrorszenario« für alle Migranten an Bord und auch für die Retter, sagt SOS-Sprecherin Jana Ciernioch, als sie von dem Vorfall berichtet. Doch solche oder so ähnliche Szenen wiederholen sich in letzter Zeit auf dem Meer zwischen Nordafrika und Europa. Europäische Rettungsschiffe geraten mit der libyschen Küstenwache immer öfter aneinander. Oft ist unklar, wer die Migranten übernimmt. Rettungseinsätze werden verzögert und somit Menschenleben gefährdet, beklagt die Internationale Organisation für Migration IOM.
»Italien zieht sich immer mehr aus der Koordination der Rettungen auf dem Mittelmeer zurück«, sagt SOS-Sprecherin Ciernioch. Ziel sei es, die Einsätze bis 2020 komplett den Libyern zu überlassen. Also einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt und in dem die staatlichen Strukturen zerfallen sind. Ausgerüstet und trainiert von der EU soll die libysche Küstenwache Migranten von der Überfahrt abhalten. Amnesty International warf Teilen der libyschen Küstenwache vor, mit Menschenschmugglern zu kooperieren. Ein Menschenleben zählt kaum etwas in dem Land, wo Migranten in Lagern unterkommen, in denen nach Angaben des UN-Menschenrechtskommissars »Folter und schlechte Behandlung systematisch« sind.
Der humanitäre Ansatz, den die italienische Regierung von 2013 an bei der Seenotrettung von Migranten hatte, sei am Ende, erklärt Paolo Cuttitta vom Amsterdam Centre for Migration and Refugee Law. Hilfsorganisationen seien von Partnern zu Gegnern geworden, und die libyschen Behörden führten für Italien das Abdrängen von Flüchtlingen aus. Zeitweise waren nur noch zwei zivile Schiffe im Mittelmeer zur Rettung unterwegs: Die »Aquarius« und die »Seefuchs« der Regensburger Initiative Sea-Eye. Es waren einmal mehr als zehn.
Einige Seenotretter haben sich ganz zurückgezogen, weil im Klima der Fremdenfeindlichkeit Spendengelder schrumpfen oder weil sie den »Verhaltenskodex« für Hilfsorganisationen der italienischen Regierung nicht unterzeichnet haben. Oder ihre Schiffe wurden beschlagnahmt. Nicht nur das der deutschen Organisation Jugend Rettet, über dessen Schicksal am Montag das oberste Gericht Italiens entscheiden muss. Auch das spanische Schiff »Open Arms« wurde zeitweise festgesetzt, dem Kapitän und der Einsatzleiterin wird Beihilfe zur illegalen Einwanderung vorgeworfen.
Zwar hat ein Ermittlungsrichter das spanische Schiff wieder freigegeben. Und das mit der spektakulären Begründung, dass es vor dem Hintergrund der Zustände in Libyen unmenschlich sei, Menschen dorthin zurück zu transportieren. Doch an der italienischen und europäischen Migrationspolitik wird das wenig ändern. Denn deren Priorität bleibt es, die Migranten um jeden Preis fernzuhalten - auch weil den Regierenden immer größere Wellen des Rassismus im eigenen Land entgegenschlagen.
Durch das umstrittene Abkommen mit den Libyern kamen im letzten Jahr ein Drittel weniger Migranten an den Küsten Italiens an als im Vorjahr. In diesem Jahr waren es bisher rund 18.500 statt knapp 46.000. Allerdings starben bei der Überfahrt mehr als 550 Migranten. Und jetzt, wo das Wetter besser wird, erwarten die Retter wieder mehr Überfahrten. Auch hat sich der Zahl der Flüchtlinge erhöht, die über Marokko und Spanien versuchen, nach Europa zu gelangen. Außerdem sterben nach UN-Schätzungen hunderte Flüchtlinge in der Wüste.
Kann man also von Erfolg sprechen? »Es ist (für die italienische Regierung und Europa) insofern ein Erfolg, dass die kontinuierlichen Menschenrechtsverletzungen nicht mehr unsere TV-Kameras erreichen«, sagt Maurizio Ambrosini, Dozent für Migrationspolitik an der Universität Mailand.
Gelöst ist das Problem bei Weitem nicht, es verlagert sich nur. Stefano Torelli vom europäischen Thinktank ECFR erklärt, dass das Libyenabkommen das Gegenteil bewirkt habe und die indirekte Unterstützung von Milizen, lokalen Behörden und der Küstenwache zu einem Machtkampf zwischen den unterschiedlichen Akteuren geführt habe. Nach Schätzungen lebten mehr als 700.000 Migranten in Libyen, hinzu kämen mehr als 165.000 Libyer, die durch die Kämpfe im Land aus ihren Heimatorten vertrieben worden seien.
Dass sich der Zustand der Flüchtenden konstant verschlimmert, bezeugen Hilfsorganisationen und italienische Behörden. Zuletzt brach ein Mann bei der Ankunft in Sizilien zusammen. Er war verhungert. Der Bürgermeister der Stadt Pozzallo, Roberto Ammatuna, fand damals nur folgende Worte: »Sie waren alle nur Haut und Knochen, als würden sie aus einem Konzentrationslager der Nazis kommen.« dpa/nd
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