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Biss zur Erkenntnis
Nach Büchern etwa über Hermann Hesse und Gottfried Benn hat Gunnar Decker sich nun - der Fledermaus zugewandt
Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Tier, dem wir das neue Buch von Gunnar Decker verdanken, noch lebt. Immerhin können Fledermäuse, wie wir darin erfahren, über 20 Jahre alt werden. Noch keine drei Jahre ist es her, dass Decker mit jenem Exemplar der berüchtigten Nachtschwärmer unfreiwillig Bekanntschaft schloss, wenn auch nur flüchtig. Den Schreckmoment, den der schreibende Philosoph damals während seines allsommerlichen Aufenthalts in der Lagunenstadt erlebte, schilderte er Lesern dieser Zeitung am 4. August 2015 in einer seiner Venedig-Kolumnen, die wir im Feuilleton seit Jahren liebend gern drucken: Gleich in der ersten Nacht in seiner temporären Mietwohnung hatte das stattliche Tier den Schlafenden auf der Jagd nach Mücken heimgesucht; einen Moment lang waren sich beide - Mensch und Fledermaus - nähergekommen, als es zumindest Decker lieb sein konnte. Hatte sie, die doch die Tollwut in sich tragen soll, ihn womöglich gar gebissen? Sehr unwahrscheinlich, winkt der Bruder des Alarmierten, ein nüchterner Chirurg, am Telefon ab. Infiziert war Decker gleichwohl.
Was das Fledermaus-Virus in ihm ausgelöst hat, liegt jetzt als Buch in unseren Händen: eine intensive, ja geradezu besessene Auseinandersetzung mit den »Boten der Nacht«, während derer sich ihm ein »unerwarteter Reichtum an Themen, eine Fülle fruchtbarer Motive« offenbarte. Einmal angepiekst, hat Decker, der zuvor mit Büchern etwa über Franz Fühmann oder das Jahr 1965, über Gottfried Benn, Hermann Hesse oder zuletzt den heiligen Franz von Assisi hervorgetreten ist, alles in sich aufgesogen, was über Fledermäuse in Erfahrung zu bringen war: angefangen von den faszinierenden biologischen Eigenheiten, weiter über ihr Vorkommen in den Kulten und Kulturen der Welt, bis hin zum Fledermausmotiv in Belletristik, Malerei und Film. »Aus der Natur«, heißt es im Vorwort, »kommt die Faszination, aus der - auch negativen - Faszination erwachsen Legenden und Mythen.« Die drängende Frage, die ihn, der er doch fürchtete, selbst Opfer eines Bisses geworden sein, am meisten antrieb, war jene, wie die Fledermaus wohl in den Ruf geraten sei, als Vampir ihr Unwesen zu treiben.
Der erste Teil der illustrierten Monografie, in dem Decker sich geist- und anekdotenreich mit der bis heute nicht gänzlich geklärten Abstammung, den physiologischen Eigenheiten und dem Sozialverhalten der Fledermäuse auseinandersetzt, führt über Um- und Nebenwege, von denen keiner umsonst beschritten wird, zur südamerikanischen Vampirfledermaus. Als einzige von über 1000 bis heute bekannten Arten ist sie es, die sich tatsächlich ausschließlich von Blut ernährt. Selbst immun gegen »Tod und Teufel«, trägt das Tier, dessen Fachname sich wie ein Zauberspruch aus den Harry-Potter-Bänden anhört (Desmodus rotundus), zu allem Überfluss zahlreiche Krankheitserreger in sich, die dem Menschen und seinen Nutztieren zur tödlichen Gefahr werden können. Eine Gefahr allerdings, die von der Menschheit selbst verursacht worden ist, wie Decker immer wieder betont: »Das Grundproblem im Verhältnis von Vampirfledermaus und Mensch bleibt die unnatürliche Kollision von (schrumpfenden) Jagdgebieten des einen und (expandierenden) Lebensräumen des anderen.«
Im zweiten Teil, gewidmet den Vampir-Legenden, läuft der Autor vollends zur Hochform auf - auch wenn die Fledermaus hier zunächst fehlt. Denn lange bevor der irische Schriftsteller Bram Stoker seinen blutsaugenden »Dracula« 1897 in ihrer Gestalt auftreten ließ, hatten Vampire halb Europa befallen, ohne dabei in Verbindung mit den Fledermäusen gebracht worden zu sein. Das Wort Vampir, klärt Decker auf, wurde um das Jahr 1730 populär und bezeichnete zunächst ein Gespenst, einen Zombie, einen lebenden Toten. Was aber faszinierte die Zeitgenossen derart an der Vorstellung der Existenz solcher Untoten, dass in den Folgejahren eine »Vampirismus-Debatte« vom Zaun brach, die sich laut Decker »in einer Flut von Publikationen« niederschlug und Voltaire noch Jahrzehnte später zu einer genervten Abrechnung bewog? Die Vampire, bemerkte der Aufklärer darin, »erinnerten an die alten Märtyrer; je mehr man verbrannte, desto mehr tauchten auf«.
Das Phänomen nicht verwesender Leichen scheint die Menschen nie mehr beunruhigt zu haben als zur Epochenwende vom religiösen zum wissenschaftlichen Zeitalter. Anders als im katholischen Glauben, der den scheinbar unversehrten Zustand eines toten Körpers als Zeichen der Heiligkeit ansah, galt er den Orthodoxen als Teufelswerk. Die Vampir-Hysterie insbesondere in der ländlichen Bevölkerung Südosteuropas führt Decker auch darauf zurück, dass die orthodoxe Kirche den Aberglauben eher befeuerte, als ihm entgegenzuwirken. Berichte aus Serbien oder Ungarn, denen zufolge die Untoten des Nachts die Lebenden heimsuchten, um sich an deren Kräften und Säften zu laben, machten jedenfalls auch bald in den Zeitungen des Westens die Runde und befeuerten dort »die akademische Debatte«. Bezeugt ist auch das verbreitete Vorgehen gegen die vermeintlichen Vampire: Sie wurden exhumiert, gepfählt und verbrannt. Mit einem 1755 angeordneten »Vampirerlass« versuchte Erzherzogin Maria Theresia höchstpersönlich, dem Treiben durch die Androhung schwerer Strafen ein Ende zu bereiten - mit zögerlich einsetzendem Erfolg.
»Weder in London noch in Paris«, schrieb indessen Voltaire, »war von Vampiren die Rede. Ich gestehe, dass es in diesen beiden Städten Börsenspekulanten, Händler, Geschäftsleute gibt, die eine Menge Blut aus dem Volk heraussaugen, aber diese Herren sind überhaupt nicht tot, allerdings ziemlich angefault.« Während der alte Aufklärer das Vampir-Phänomen - wie später auch Marx - in Verbindung mit dem aufkommenden Kapitalismus bringt, erkennt Decker in der wenig später erblühenden Vampir-Renaissance der Romantik eine »Aufklärung über die Grenzen der Aufklärung«. In Gestalt der Jakobiner sei es die neue Vernunft selbst gewesen, die sich »als blutsaufend herausgestellt« hatte. Nicht von ungefähr, folgert der Autor, wandten die Romantiker sich von der gnadenlos ausgeleuchteten Welt des verheißenen Fortschritts ab und den Nachtseiten der menschlichen Natur zu.
Seit dem sensationellen Erfolg der 1819 unter dem Namen Lord Byrons veröffentlichten Schauergeschichte »Der Vampyr« jedenfalls setzte eine neue Vampir-Welle ein, die diesmal nicht über Grabfelder schwappte, sondern sich in zahllosen Werken literarisch niederschlug, von denen Decker herausragende zitiert und deutet.
Während Voltaire in London noch vergeblich nach Vampiren Ausschau gehalten hatte, die anders denn in Gestalt von Kapitalisten ihr Saugwerk betreiben, war es Bram Stoker, der den transsylvanischen Grafen Dracula in seiner Gothic Novel ausgerechnet hier, im Zentrum der sogenannten Zivilisation, zum ersten Mal als Fledermaus auftreten ließ. »Selten«, resümiert Decker seine Stoker-Lektüre im dritten Teil des Buches, »wird man beim Lesen so eingewoben von Handlungsfäden, deren existenzieller Bezug sich auf unerwartete Weise weitet, so dass der Vampir der Moderne auf einmal unabhängig von Graf Dracula vor uns steht, der das anachronistische Prinzip verkörpert und wie ein Kostümträger im falschen Stück wirkt.« Wie die südamerikanische Vampirfledermaus, die ohne ständige Blutzufuhr alsbald verhungern würde, verlangt es Dracula, den Repräsentanten einer untergegangenen Epoche, unentwegt nach jenem Saft, der nur dem Neuen, Lebendigen innewohnt. Decker: »Da erscheint die Blutgier in anderem Licht: als Überlebenstrieb angesichts einer tickenden Uhr. Nur dass es im Falle Draculas ums Fortexistieren von etwas geht, das längst tot ist.«
Nun endlich schließt sich die Lücke in Gänze, die noch zu Beginn zwischen dem philosophischen Autor und seinem biologischen Gegenstand zu klaffen schien wie der Spalt zwischen den Zahnreihen eines geöffneten Reißverschlusses. Der Blick in die Zukunft, resümiert Gunnar Decker, könne nur dann visionär sein, wenn er sich der Macht der Vergangenheit aussetze. »Ohne diesen Widerstand verwandeln wir uns - aus lauter Gegenwart gemacht - in Untote, Vampire, von denen der Spiegel kein Bild hat.«
Gunnar Decker: Die Fledermaus. Bote der Nacht. Berenberg, 168 S., geb., 22 €.
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