Nicaraguaner lassen sich nicht besänftigen
Anhaltende Proteste gegen die Regierung von Daniel Ortega trotz der Rücknahme der Sozialreform
Am Montag marschierten mehrere Zehntausend Menschen durch die Straßen von Nicaraguas Hauptstadt Managua. Sie forderten ein Ende der Repression seitens der Regierung und die Wiederherstellung der Pressefreiheit. Immer wieder waren auch Sprechchöre gegen Präsident Daniel Ortega und dessen Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo zu hören. Zu der Großdemonstration hatte der private Unternehmerverband Cosep aufgerufen.
Nach landesweiten, zum Teil gewalttätigen Protesten hatte Ortega am Sonntag die strittige Reform der Sozialversicherung zurückgenommen. Damit solle der Frieden im Land wiederhergestellt und die Diskussion über die notwendige Reform des Sozialversicherungssystems ermöglicht werden, so der Präsident.
Die Regierung hatte am 16. April am Parlament vorbei ein Dekret erlassen, das vorsah, die Rentenbeiträge für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erhöhen - ab 1. Juli sollten Unternehmen 22,5 Prozent statt bislang 19 Prozent abführen, die Beiträge der Beschäftigten von 6,25 auf 7 Prozent steigen - und gleichzeitig die Renten um fünf Prozent zu kürzen. Daraufhin waren am Mittwoch zunächst Hunderte Rentner auf die Straße gegangen; tags darauf eskalierte die Situation, als sich Studenten und Arbeiter den Protesten anschlossen und der Staat mit massiver Gewalt reagierte.
Mit den Beitragserhöhungen sollte das Millionendefizit des Nicaraguanischen Sozialversicherungsinstituts INSS reduziert werden. Die Regierung erhoffte sich zusätzliche Einnahmen von rund 250 Millionen US-Dollar (rund 203 Millionen Euro). Die Reform sei nötig, so die Regierung, um die laufenden Rentenzahlungen zu garantieren und eine Privatisierung des Systems zu vermeiden. Das Rentenalter liegt in Nicaragua bei 60 Jahren; Rentenanspruch erwirbt, wer 15 Jahre oder 750 Wochen sozialversicherungspflichtig beschäftigt war - eine der niedrigsten Quoten weltweit.
Experten führen die angespannte Finanzsituation des INSS unter anderem auf ein »Übermaß an administrativen Ausgaben« zurück. Noch weiter gehen die oppositionellen Medien: Sie geben der Regierung direkt die Schuld. Die Rentenkassen seien schlampig verwaltet und Gelder für fragwürdige Investitionsprojekte an »dem Präsidenten nahestehende Personen« abgezweigt worden.
Schon unter den Vorgängerregierungen in den 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre waren immer wieder Millionenbeträge aus der INSS veruntreut worden.
In seiner ersten Amtszeit (1985-1990) hatte es Ortega noch mit einer massiven Verstaatlichungspolitik versucht; nach seinem Wahlsieg 2006 setzte er dann auf einen Liberalisierungskurs. IWF, Weltbank und Interamerikanische Entwicklungsbank halfen Nicaragua, seine Sozialprogramme und Infrastrukturprojekte zu entwerfen und zu finanzieren. Trotz gelegentlicher rhetorischer Ausbrüche gegen den »Imperialismus« hielt sich Ortega an das CAFTA-Freihandelsabkommen zwischen den USA und Zentralamerika CAFTA. Die USA sind mit Abstand Nicaraguas wichtigster Handelspartner.
In den vergangenen Jahren erreichte Nicaragua ein jährliches Wirtschaftswachstum von vier bis fünf Prozent. Dies hatte auch mit der Strategie der sandinistischen Regierung zu tun, sich in wichtigen Punkten mit den unternehmerischen Eliten im Land abzustimmen. Cosep-Chef, Jose Adan Aguerri, beschrieb diesen Ansatz als »Kommunikation mit Resultaten«.
Tatsächlich gab es auch sozialpolitische Fortschritte. Ortega senkte die Gebühren für Krankenversicherung und öffentliche Bildung, subventionierte den öffentlichen Nahverkehr und Strompreise, investierte massiv in die Hühnerproduktion auf dem Land und vergab Mikrokredite an Gründerinnen. Sowohl regierungsnahe als auch unabhängige private Forschungsinstitute verzeichnen einen erkennbaren Rückgang von extremer Armut unter Ortegas Präsidentschaft.
Die massiven Proteste gegen die Reform der Sozialversicherung markieren vor diesem Hintergrund in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt. Die Unternehmerverbände lehnten die unilateral eingeführten Maßnahmen ab und wiesen darauf hin, dass die Regierung den Mechanismus von »Dialog und Konsens« gebrochen habe. Die bisherige Allianz zwischen Regierung und Wirtschaftselite, »die entscheidend gewesen ist, um einem autoritären Regime Legitimation zu verleihen, das jegliches Gegengewicht politischer Opposition ausgeschaltet hat«, stehe damit vor einer ungewissen Zukunft, so Carlos Fernando Chamorro, Herausgeber des nicaraguanischen Magazins »Confidencial«, in einer Kolumne der spanischen Tageszeitung »El País«.
Und: »Zum ersten Mal seit dem Triumph der sandinistischen Revolution 1979 haben Daniel Ortega und die FSLN die Kontrolle über die Straße verloren«, schrieb die nicaraguanische Tageszeitung »La Prensa« am Montag in einem Leitartikel in Anlehnung an die heftigen Proteste, die bisher rund 30 Menschenleben gekostet haben sollen.
Allein mit der Reform der Sozialversicherung ist die Wucht der Proteste nicht zu erklären. Wegen der hohen Lebenskosten, der weitverbreiteten Korruption und den Einschränkungen der Pressefreiheit herrscht jedoch seit Monaten eine angespannte Unruhe in dem zentralamerikanischen Land. So ist die Wut über die Rentenreform zu einem landesweiten Aufstand gegen Präsident Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo geworden. Nicht wenige fürchten die Errichtung einer Familiendynastie.
Obwohl Ortega am Wochenende eingelenkt hatte, denken vor allem die protestierenden Studenten nicht an Aufgabe. Sie wollen die Mobilisierungen so lange fortsetzen, bis Ortega die Macht abgibt. Jeffry Lopez aus Nandasmo, im Umland von Managua, sagte gegenüber dem »nd«: »Die Leute wollen nicht mehr nur die Rücknahme der Erhöhung von fünf Prozent; jetzt, wo es Tote gegeben hat, wollen sie, dass Ortega geht.«
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