- Kommentare
- Bedingungsloses Grundeinkommen
Keine Alternative zu Hartz IV
Armutsforscher: Das bedingungslose Grundeinkommen ist der falsche Weg
Spätestens der Wiesbadener SPD-Parteitag vor wenigen Tagen brachte es an den Tag: Immer mehr Sozialdemokraten erkennen, dass die Agenda 2010 des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und das im Volksmund als »Hartz IV« bezeichnete Gesetzespaket nicht bloß den historischen Niedergang ihrer Partei eingeleitet und den parallel verlaufenden Aufschwung des Rechtspopulismus (AfD, Pegida) ermöglicht, sondern auch die Arbeitswelt zum Schlechteren verändert, Armut zu einem Massenphänomen gemacht und das soziale Klima rauer, ja die ganze Gesellschaft kälter gemacht haben.
Das mit Hartz IV geschaffene rigide Arbeitsmarktregime durchdringt alle Poren der Gesellschaft und lässt die Betroffenen nicht mehr los, beherrscht ihren Alltag und zwingt sie, ihr gesamtes Verhalten nach ihm auszurichten. Auch für alle übrigen Gesellschaftsmitglieder hat sich die soziale Fallhöhe durch Hartz IV vergrößert. Unter dem Damoklesschwert von Hartz IV akzeptieren Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschaften schlechtere Arbeitsbedingungen und sinkende Löhne.
Die uralte Idee, sämtliche Bürger vom Arbeitszwang zu befreien und Armut zu vermeiden, indem der Staat allen Gesellschaftsmitgliedern ein gleich hohes, ihre materielle Existenz auf einem Mindestniveau sicherndes Grundeinkommen zahlt, klingt dagegen faszinierend. Nicht bloß an den Schikanen ihres Jobcenters schier verzweifelnden Arbeitslosengeld-II-Beziehern erscheint das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) geradezu als Rettungsanker. Es würde ihnen das zeitraubende Ausfüllen komplizierter Formulare, den aufreibenden Papierkrieg mit ihrem Sachbearbeiter, den permanenten Kontrolldruck des Prüfdienstes und drohende Sanktionen ersparen. Weder eine Bedürftigkeitsprüfung über sich ergehen lassen noch die Eingliederungsvereinbarung unterzeichnen, aber auch nicht jeden Job annehmen, zum wiederholten Mal ein nutzloses Bewerbungstraining mitmachen oder an einer sinnentleerten Weiterbildungsmaßnahme teilnehmen zu müssen, wäre für die meisten Hartz-IV-Betroffenen eine wahre Erlösung.
Ausgerechnet die einflussreichsten BGE-Modelle laufen jedoch auf eine Zerschlagung des bestehenden Sozial(versicherungs)staates hinaus, der zumindest seinem Anspruch nach Bedarfsgerechtigkeit schafft, den Lebensstandard von Erwerbslosen halbwegs sichernde Lohnersatzleistungen bereitstellt und auch die Lebensleistung von Ruheständlern durch Zahlung einer Rente oder Pension anerkennt. Dagegen sieht das Grundeinkommen von den konkreten Arbeits-, Lebens-, Einkommens- und Vermögensverhältnissen seiner Bezieher ab, wenn es sämtlichen Bürgern in gleicher Höhe gezahlt wird - ganz egal, ob sie Multimilliardär, Müllwerker oder Multijobberin, Spitzensportler oder Schwerbehinderte sind. Alle werden über einen Leisten geschlagen, was differenzierte Lösungen für soziale Probleme ausschließt.
Keinem nützt eine Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip: Reiche brauchen das Grundeinkommen nicht, weil sie Geld im Überfluss haben, und Armen reicht es nicht, um würdevoll leben zu können. Bekämen alle Bürger vom Staat 1000 Euro pro Monat, nähme zwar die absolute, nicht jedoch die hierzulande vorherrschende relative Armut deutlich ab. Vielmehr würde die von der EU bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens angesetzte Armuts(risiko)schwelle bloß so weit nach oben verschoben, dass man ihr mit diesem Betrag allein nahe bliebe. Um dies zu ändern, müsste man trotz Grundeinkommensbezugs erwerbstätig sein, wodurch ein indirekter Arbeitszwang fortbestünde.
Eine steuerfinanzierte Transferleistung weist gegenüber einem beitragsfinanzierten Sicherungssystem den Nachteil auf, dass sie verfassungsrechtlich nicht geschützt ist und ihre Bezieher von der Kassenlage des Staates abhängig werden: Unter dem Druck haushalts- und finanzpolitischer »Sparzwänge« bestünde die Gefahr, dass keine Dynamisierung (der Höhe) des Grundeinkommens stattfände, sondern umgekehrt Kürzungsmaßnahmen beschlossen würden, und zwar Jahr für Jahr, wenn die Steuereinnahmen sinken oder wenn man andere Staatsausgaben für wichtiger bzw. vordringlicher hält.
Vermutlich würde das bedingungslose Grundeinkommen als ein Kombilohn für alle wirken, weil der Staat für die Reproduktion der Ware Arbeitskraft aufkäme und die Unternehmer dafür mit dem von ihnen gezahlten Lohn oder Gehalt entsprechend weniger dafür aufbringen müssten. Da die Menschen nicht bloß der Existenzsicherung wegen arbeiten, dürften die meisten BGE-Empfänger an einer Beschäftigung interessiert bleiben. Der ausufernde Niedriglohnsektor, heute bereits das Haupteinfallstor für Erwerbs-, Familien- und spätere Altersarmut in Deutschland, würde deshalb nicht wie durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in existenzsichernder Höhe und ohne Ausnahmen für besonders schutzbedürftige Personengruppen (Langzeiterwerbslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten) eingedämmt, sondern noch massiver durch den Staat subventioniert. Dabei hat dieser seit 2005 bereits Arbeitslosengeld in Höhe von über 100 Milliarden Euro an sog. Aufstocker bezahlt, also Menschen, die gar nicht arbeitslos sind, sondern von ihrem Lohn oder Gehalt nicht leben können.
Wegen der immensen Kosten des Grundeinkommens müssen seine Befürworter die Sozialversicherung und andere Transferleistungen (z.B. Elterngeld, Wohngeld und Sozialhilfe) abschaffen. Ökonomen weisen darauf hin, dass sich durch das BGE auch der Kündigungsschutz, Tarifverträge und Mindestlöhne erübrigen. Das erklärte Ziel neoliberaler Reformer, einen »Minimalstaat« zu schaffen, wäre gewissermaßen nebenbei erreicht.
Was zahlreichen Erwerbslosen als »Schlaraffenland ohne Arbeitszwang« erscheint, wäre mithin ein wahres Paradies für Unternehmer, in dem die abhängig Beschäftigten weniger soziale Rechte geltend machen könnten und ihre Gewerkschaften als (Gegen-)Machtfaktor praktisch ausfallen würden. Letztlich ist das Grundeinkommen elitär und pseudoegalitär, weil es sich verhält, als bestünde die soziale Gleichheit schon, obwohl sie in Wirklichkeit erst geschaffen werden muss. Man kann den Kommunismus nun einmal nicht im Kapitalismus verwirklichen, wie wohlwollende BGE-Anhänger offenbar glauben.
SPD-Politiker sprechen heute zwar wieder über Hartz IV, denken allerdings gar nicht über eine Abschaffung oder Weiterentwicklung von Hartz IV selbst nach, sondern bloß noch darüber, wie man bestimmte Gruppen von Arbeitslosengeld-II-Empfängern aus dem Transferleistungsbezug herausholen kann. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller knüpft mit seinem »Solidarischen Grundeinkommen« an die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen früherer Jahrzehnte an. Er will sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze im kommunalen Bereich schaffen und auf Zwangsmaßnahmen zu ihrer Besetzung verzichten, sie jedoch nicht tariflich bezahlen, sondern zum Mindestlohn anbieten. Da dieser kaum reicht, um die galoppierenden Mieten aufzubringen, wären die meisten Bezieher des Solidarischen Grundeinkommens vermutlich gezwungen, weiterhin aufstockend Arbeitslosengeld II zu beantragen. Denn das Solidarische Grundeinkommen ist weder solidarisch noch ein Grundeinkommen, sondern als wohlklingendes Etikett zwar trefflich gewählt, aber ähnlich irreführend wie »Fördern und Fordern« als Werbeslogan für Hartz IV.
Die von der Parteispitze in Wiesbaden versprochene inhaltliche Erneuerung der SPD wird es nur geben, wenn sie Abschied von der »Agenda«-Politik nimmt und mit Hartz IV bricht. Nötig wäre aber eben nicht die Zerstörung des Sozialstaates, vielmehr seine Weiterentwicklung zu einer solidarischen Bürgerversicherung, in die alle Personen einzahlen, die Beiträge entrichten können - für alle übrigen muss der Staat das tun. Ergänzt würde dieser inklusive Sozialstaat durch eine bedarfsdeckende, armutsfeste und repressionsfreie, d.h. ohne Sanktionen auskommende Grundsicherung, die den Namen im Unterschied zu Hartz IV wirklich verdient.
Professor Christoph Butterwegge lehrte bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität Köln. Kürzlich ist eine aktualisierte Neuauflage seines Buches »Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?« erschienen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.