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Plädoyer für eine kritische Marx-Debatte
Dietmar Bartsch über die Aktualität des Philosophen und Ökonomen in Zeiten einer kriselnden Demokratie
Dass sich Marx aus dem philosophischen, kritisch-ökonomischen und politischen Denken der Moderne nicht tilgen lässt, ist eine Wahrheit, die fast schon eine Binsenwahrheit wäre, gäbe es nicht jene, die genau diese Tilgungsversuche beharrlich unternehmen. Die tiefe Verankerung in den Selbstverständigungsdiskursen der Moderne macht ihn zum Klassiker. Dass er noch immer polarisiert, zeigt seine Aktualität.
Geschichtsphilosophie
Ein Ärgernis, das in Marx- und Marxismusdiskussionen regelmäßig auftaucht, ist die Geschichtsphilosophie. Im Kern bedeutet das, dass es angeblich »Gesetze« oder dergleichen in der Geschichte geben würde, die zur Hervorbringung eines ihr innewohnenden Zieles drängen würden. Natürlich gibt es noch eine andere Bedeutung von Geschichtsphilosophie: eine philosophische Betrachtung und Analyse der Wissenschaft von der Geschichte, also eine Art Wissenschaftstheorie. Gemeint ist jedoch hier die erste Bedeutung. Es gibt sicher auch philosophische Einwände gegen geschichtsphilosophische Bestrebungen. Aber die sind hier nicht vorrangig von Interesse. Wichtiger ist, dass die Annahme, dass man sich irgendwie auf die Geschichte schon verlassen könne, politische Folgen hat. Eine dieser Folgen hat der Historiker Dieter Groh als »revolutionären Attentismus« bezeichnet. Dieser Begriff soll eine politische Haltung charakterisieren, die für den Marxismus der SPD um die Wende zum 20. Jahrhundert charakteristisch war. Man betrieb eine mehr oder weniger pragmatisch-reformistische Alltagspolitik und glaubte an den großen »Kladderadatsch«. Damit konnte man ganz gut der Frage aus dem Weg gehen, was eigentlich die Partei zur Herbeiführung und politischen Nutzbarmachung des Zusammenbruchs des Kapitalismus tun müsste. In dieser Sicht sollte der Sozialismus über Nacht kommen, jedoch ohne Aktion. Aber auch im leninistischen Konzept der Parteidiktatur hat die Geschichtsphilosophie eine negative politische Rolle gespielt. Sie diente letztlich der Legitimation dieser Herrschaftsform einschließlich all dessen, was sich die Herrschenden gerade einfallen ließen. Die Geschichte war eben aus »wissenschaftlichen Gründen« auf ihrer Seite. Nachdem ich hier meine Skepsis ausgebreitet habe, stellt sich die Frage, ob die Behauptung, Marx sei Anhänger einer so dubiosen Geschichtsphilosophie gewesen, überhaupt zu recht besteht. Oder ist das eine Kritik an Ansichten, die Marx nicht vertreten hat? Leider ist hier die Quellenlage widersprüchlich: Während der Marx der »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte« ein solches Geschichtskonzept offenbar verfolgte, sieht die Lage in der »Deutschen Ideologie« recht entspannt aus. Dort kritisiert Marx ausdrücklich Geschichtsinterpretationen, die im Geschichtsprozess eine Verwirklichung immanenter Zwecke sehen. Im »Kapital« wiederum kann man auf den Gedanken kommen, dass die ökonomischen Gesetze, sofern sie als historische Tendenzaussagen interpretierbar sind, ökonomisch verkleidete Geschichtsphilosophie seien. Die Lage ist also nicht eindeutig. Wir sollten daher bei einer Marxaneignung einen kritischen Blick auf das Problem der Geschichtsphilosophie ausbilden.
Komplexe Gegenstände: Dialektik
Nun ist es aber nicht so, dass es nur Problematisches im Werk von Marx gibt. Wir verdanken diesem Denker eine Möglichkeit, so komplexe Gegenstände wie unsere Gesellschaft analysieren zu können. Marx stellte sich das Problem, seinen Gegenstand, die politische Ökonomie der kapitalistischen Gesellschaften, so darstellen zu können, dass die Darstellung selbst eine Kritik impliziert. Im marxistischen Jargon nennt man das eine immanent ansetzende Kritik. Dabei ließ er sich durch Hegels Dialektik anregen. »Übrigens finde ich hübsche Entwicklungen. Z.B. die ganze Lehre vom Profit, wie sie bisher war, habe ich über den Haufen geworfen. In der Methode des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich (…) Hegels ‚Logik‘ wieder durchgeblättert hatte.« (Brief von Marx an Engels vom 16.1.1858; in MEW Bd.29, S.260) Auch in den ersten Kapiteln des ersten Bandes von »Das Kapital« kann der Einfluss Hegels nicht geleugnet werden. Nur worin besteht er? Um es ganz grob zu formulieren: Wenn wir bei der Darstellung eines Sachverhalts oder Untersuchung eines Gegenstandes auf Widersprüche stoßen, dann ist das ein Hinweis darauf, dass wir das Problem noch nicht richtig verstanden haben. Dann ist Nacharbeit nötig. Diese Nacharbeit kann aber nicht im Rahmen von Begriffszaubereien geleistet werden, sondern hier ist empirisch abgesicherter Wirklichkeitsbezug nötig. Wenn es dann gelingt, den Gegenstand oder Sachverhalt klarer zu fassen, bedeutet das auch, dass wir die Widersprüche erklären können. Im Jargon der Dialektik erscheinen diese dann als widersprüchliche »Momente«. Häufig wird bezweifelt, ob derartige Analysen überhaupt wissenschaftlich sind. Dieser Zweifel nähert sich aus einem empiristisch verengten Wissenschaftsverständnis, das am Ende nur Umfragen und mathematische Modelle gelten lässt. Ich möchte einen Vergleich riskieren: Von einer Stadt wie Berlin können wir eine Luftaufnahme machen, die sehr detailliert sein kann; wir können auch einen Plan vom Streckennetz (insbesondere U- und S-Bahn) nehmen. Die Frage ist, was das bessere »Bild« von der Stadt ist. Wenn es um Exaktheit geht, muss man der Luftaufnahme den Vorzug geben. Wenn es um Orientierungsfähigkeit geht, halte ich den Netzplan für geeigneter. Die Stärke der dialektischen Theoriebildung besteht darin, Bilder vom Netzplan-Typ zu liefern, sie sind jedoch nicht gerade exakt. Aber auch empirische Soziologie kann man nicht ohne Theorien, die auf große Strukturen gehen, betreiben. Adorno brachte das Beispiel einer Umfrage zu irgendeinem Thema, die unter Arbeitern durchgeführt werden soll. Er merkte an: Um zu wissen, was ein Arbeiter ist, muss man wissen, was Kapitalismus ist. Andernfalls verbleibt die Auswahl, wer Arbeiter ist und wer nicht, in einer gewissen Willkür stecken. Das ist dialektische Ironie: Die Anhänger der genauen Messung entpuppen sich als Subjektivisten.
Große Strukturbegriffe: Klassen
Mit den Stichworten »Arbeiter« und »Kapitalismus« drängt sich das nächste Thema auf: die materialistische Gesellschaftstheorie. Marx benennt zwei Dynamiken, die die gesellschaftliche Entwicklung vorantreiben. Das sind zum einen die »Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen« und zum anderen der Klassenkampf. Die erste Dynamik kann man wie folgt beschreiben: Innerhalb bestimmter Produktionsverhältnisse können nicht beliebige Produktionsziele verwirklicht werden, da es dominante Ziele gibt und untergeordnete. Im Kapitalismus ist die Produktion eines möglichst großen Mehrwerts dominant. Andere Dinge haben sich zu fügen oder sie können erst gar nicht als Ware produziert werden. Dieses dominante Ziel hat aber eine in der bisherigen Geschichte der Menschheit ungeahnte Entwicklung der Produktivkräfte zur Folge. Große Produktivkraftveränderungen implizieren jedoch massive Umstrukturierungen in der Kooperation, in der erforderlichen Bildung und in den notwendigen Bedürfnissen der Arbeitenden. Das stellt wiederum Anforderungen an die Produktionsverhältnisse. Diese können sich anpassen bzw. müssen angepasst werden. Ein Wechsel in der Produktionsweise kann erst dann vorgenommen werden, wenn es Anforderungen an die Produktionsverhältnisse gibt, die nur durch Aufhebung des bisher dominanten Produktionsziels realisiert werden können. Im Klassenkampf liegt eine andere Dynamik vor. Hier werden Interessen artikuliert, interpretiert, mit Legitimationsgeltung ausgestattet und durchgesetzt. Das sind Interessen, die sich auf der Basis einer ökonomischen Klassenlage bilden. Marx hat die Bedeutung des Klassenkampfs für die Durchsetzung des Sozialismus überschätzt. Präziser: Er hat die Tatsache unterschätzt, dass gerade Erfolge im Klassenkampf zu Besitzständen führen, die auch riskiert werden könnten, wenn das ganze System zur Disposition gestellt werden sollte. Jedoch sollte man die modernen, sozialstaatlich verfassten Demokratien nicht überschätzen. Der Sozialstaat ist in der Defensive und in ihnen lebt nur der kleinere Teil der Menschheit, während der globale Kapitalismus Menschen weltweit ausbeutet unter teilweise unwürdigen Bedingungen. Allein deshalb bleibt der Sozialismus eine Herausforderung.
Utopie, Kritik der Utopie
Alle, die Marx ein wenig besser kennen als vom Hörensagen, wissen, dass sich Marx mit dem detaillierten Ausmalen einer künftigen, sozialistischen Gesellschaft sehr zurückgehalten hat. Das lag an zwei Dingen. Erstens ging es Marx in der Hauptsache darum, überhaupt erst einmal zu verstehen, was Kapitalismus ist, was wirklich kritikwürdig ist etc. Wenn man das unterlässt und sich an Oberflächenerscheinungen festhält, gerät man schnell in trübe Gewässer, wie die antisemitische Unterscheidung zwischen »raffendem« und »schaffendem« Kapital eindringlich zeigt. Zweitens war Marx der Überzeugung, dass die Wege in eine andere Gesellschaft von den Menschen, die sich befreien wollen, selbst gefunden werden müssen. Insofern kann man bei Marx so etwas wie eine Utopiekritik ausmachen. Gleichwohl ist Marx auch ein utopischer Denker. Das zeigt sich darin, dass er der Überzeugung war, dass von Menschen gemachte Verhältnisse, sobald sie begriffen worden sind, auch von Menschen bewusst verändert werden können. Seine Utopie ist der »Verein freier Menschen«, wie er im »Kapital« schreibt. Diese Freiheitsidee macht es erforderlich, bezogen auf die ökonomische Praxis, folgende Fragen zum Gegenstand der öffentlichen Auseinandersetzung zu machen: Was soll produziert werden? Wie soll produziert werden? Welche Arbeitsteilung ist die vernünftigste? Es ist klar, dass diese Freiheitsvorstellung eine demokratische Verfassung des Wirtschaftens einfordert. Und es ist ebenso deutlich, dass der Kapitalismus eine ungeeignete Ausgangsbasis für dieses Verständnis wirtschaftlicher Freiheit ist. Heute leben wir weder in einer Epoche revolutionärer Krisen noch in Zeiten des reformerischen Optimismus; vielmehr erleben wir eine Krise der Demokratie, die inzwischen die Parteien selbst erreicht hat, wir müssen die Reste des Sozialstaats gegen weitere Demontageambitionen verteidigen. Wir müssen die politische Kultur gegen ihre Barbarisierung durch Rechtspopulisten verteidigen. Unsere Zeit ist aus linker Sicht eine Zeit der Defensive, aus der wir herausfinden müssen. Von hier aus ist das Werk von Marx zu sichten und neu zu erschließen: Was regt dort zu produktiven Fragestellungen an? Aber auch: Wo hilft Marx nicht? Wo führt er gar in die Irre? Es geht, um auf den marxistischen Denker Karl Korsch hinzuweisen, um die Frage nach dem Lebendigen und dem Toten im Werk von Marx. Ich wünsche mir eine Marx-Debatte genau in diesem Sinn.
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