• Politik
  • Großrazzia in Flüchtlingsheim

Streit um Ellwangen-Einsatz hält an

Ermittlungen gegen 27 Geflüchtete / LINKE: Behörden wollten an Bewohnern »Exempel statuieren«

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Bezüglich der Polizeirazzia vom Donnerstag und der zuvor von Flüchtlingen verhinderten Abschiebung in Ellwangen ergeben sich neue Erkenntnisse. Der von zahlreichen Politikern und Journalisten aufgegriffene Gewaltvorwurf gegen die Schutzsuchenden scheint nur begrenzt haltbar zu sein.

Polizeisprecher Bernhard Kohn vom Polizeipräsidium Aalen bestätigte so gegenüber »nd«, dass weder bei dem verhinderten Abschiebeversuch am Montag, noch bei der darauf folgenden Großrazzia vom Donnerstag Polizisten durch Geflüchtete verletzt worden seien. Ein Beamter habe zwar Verletzungen davongetragen, jedoch ohne Einwirkungen Dritter. Einzig Polizeiwagen seien am Montag beschädigt worden. Medien berichteten zuvor von drei verletzten Polizisten im Zusammenhang mit der Razzia.

Die Vorwürfe der Nötigung durch die Fahrzeugblockade und des Widerstandes gegen Festnahmen bleiben demnach zwar bestehen - von »Krawallen«, wie zahlreiche Medien schrieben, kann jedoch offenbar nicht gesprochen werden.

Zudem habe man keine Waffen im direkten Sinne bei der Durchsuchung der Flüchtlingsunterkunft gefunden, erklärte der Sprecher. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) hatte zuvor den umfangreichen Polizeieinsatz unter anderem damit legitimiert, dass es Hinweise auf »Waffengewalt« unter den Geflüchteten gegeben habe.

Ingesamt sei der Einsatz am Donnerstag »sehr gut verlaufen«, resümierte der Polizeisprecher. Neben dem 23-Jährigen, der nun abgeschoben werden soll, ermitteln die Behörden gegen 27 vorläufig festgenommene Bewohner der Unterkunft. Einige von ihnen sollen sich der Festnahme widersetzt haben, zudem gehe es um Vorwürfe von Drogendelikten, Diebstahl und Hausfriedensbruch. Bis zu 15 Personen wurden in andere Einrichtungen verlegt. Laut der Polizei gab es elf verletzte Bewohner.

Rex Osa von der Initiative »Refugees4Refugees« war während der Razzia vor Ort und hatte mit Geflüchteten gesprochen. »Die Bewohner machten einen schockierten Eindruck«, sagte er gegenüber »nd«. Sie erklärten ihm, durch eingetretene Türen geweckt worden zu sein, man habe sie mit Plastikbändern gefesselt. »Sie berichteten mir auch, dass sie am Montag nicht gewalttätig gewesen seien, sie wollten nur nicht, dass einer von ihnen abgeschoben wird.«

Osa sieht die an den Polizeieinsatz anschließende Debatte kritisch. »Vorwürfe wie jetzt gibt es immer wieder gegen Flüchtlinge. Die Behörden versuchen uns damit zu kriminalisieren, um Abschiebungen leichter durchführen zu können.« Flüchtlinge seien auf die jetzt kriminalisierte Selbstorganisation angewiesen, da ihnen Verbündete in der Politik oft fehlen würden.

Die politische Debatte um die Ereignisse in Ellwangen geht indes weiter. »Ein Rechtsstaat darf sich nicht vorführen lassen«, erklärte Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. »Es muss auch gegen die vorgegangen werden, die den Asylbewerber zunächst befreit hatten«, führte der Politiker aus. Im Falle einer Verurteilung solle man sie abschieben. Der Vize-Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, warnte vor den vom Bund geplanten Asyl- und Abschiebezentren. »Ankerzentren machen es erst möglich, dass solche Strukturen und Dynamiken entstehen, wie wir sie jetzt in Ellwangen erlebt haben.«

Der LINKE-Abgeordnete Jan Korte zog ebenfalls diesen Schluss: »Wer genau solche Zustände wie in Ellwangen nicht will, muss die Pläne für sogenannte Ankerzentren sofort begraben.« Diese seien »Zentren der Hoffnungslosigkeit«.

Kritik an dem Polizeieinsatz äußerte Pater Reinhold Baumann vom Freundeskreis Asyl. Der zur Abschiebung anstehende Mann aus Togo sei »kein Schwerverbrecher oder Untergetauchter« gewesen. »Man hat ihn ja dort gefunden.« Der Polizeieinsatz sei unverhältnismäßig gewesen.

Die LINKE-Abgeordnete und migrationspolitische Fraktionssprecherin Gökay Akbulut erklärte zu dem Einsatz: »Statt mit den Betreffenden in einen Dialog zu treten und zu vermitteln wollte man ein Exempel statuieren und hat damit auch bewusst Verletzungen in Kauf genommen.« Den gesuchten Abschiebehäftling hätte man in seinem eigenen Bett gefunden. »Dafür war ein derart massiver Polizeieinsatz zumindest nicht nötig.«

Akbulut kritisierte weiterhin den »Verbalradikalismus« von Innenminister Horst Seehofer (CSU), der die Ereignisse einen »Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung« nannte. »Seehofer sollte sich lieber bewusst machen, dass er den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit solchen Aussagen gezielt untergräbt.«

Auch unter Journalisten läuft derweil eine Debatte über Mängel der Berichterstattung. »Der imaginierte, der inszenierte Bürgerkrieg, und die Medien machen mit, liefern die Bilder, scheinbar ohne Bewusstsein für die Dynamik der Ereignisse«, kritisierte der »Spiegel«-Autor Georg Diez. »Sie liefern die Worte, die ihnen die Politik vorgegeben hat, scheinbar ohne Sinn für die eigene Stimme, die eigene Verantwortung.«

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.