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Hört auf, die Arschlöcher zu hypen!
Theatertreffen: Die Münchner Kammerspiele gastieren mit zwei Versionen von Brechts »Trommeln in der Nacht«
Woher kommt eigentlich der Vorwurf, an den Münchner Kammerspielen werde das Sprechtheater abgewickelt? In der bayerischen Landeshauptstadt kursiert diese Behauptung, seit Matthias Lilienthal im Jahr 2015 die Intendanz übernommen hat. Im Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung« erklärte 2017 die lokale Großkritik, man habe sich an den Kammerspielen vom sauberen Schauspielhandwerk verabschiedet. Kürzlich beschloss die CSU-Fraktion, einer Vertragsverlängerung mit Lilienthal nicht zuzustimmen. Er muss 2020 gehen. Zur Begründung hieß es: »Die Zeit der Experimente ist vorbei.«
Die Nörgler haben, von außen betrachtet, so manches Argument auf ihrer Seite. Lilienthal arbeitete bis 1998 an der Berliner Volksbühne als Chefdramaturg, bevor er bis 2012 als Boss das Berliner Hebbel am Ufer zum Fixpunkt der Performance umgestaltete. In München stand zu Beginn kein Theaterstück auf dem Plan, sondern eine Übernachtung in provisorischen Hütten, die für maximal 250 Euro errichtet worden waren, um auf die absurd teuren Mieten hinzuweisen. Lilienthal, der das klassische Schauspiel einmal als »Kunstkacke« bezeichnete, musste 2016 die Premiere von Michel Houellebecqs »Unterwerfung« absagen, weil dem Regisseur Julien Gosselin politische Vorgaben des Theaters nicht passten. Zudem verließen vor einem Jahr vier renommierte Ensemblemitglieder das Theater, weil aus ihrer Sicht unter Lilienthal nicht die Schauspielkunst zähle, sondern nur die politische Botschaft.
Und doch: Wenn das alles so klar ist, dann soll mal jemand den Ortsfremden erklären, wie sich dieses Haus jetzt beim Berliner Theatertreffen mit zwei Produktionen vorstellen kann, die sich eindeutig dem Sprechtheater zuordnen lassen. Neben der Adaption von Josef Bierbichlers Roman »Mittelreich« ist eine Neufassung von Brechts »Trommeln in der Nacht« eingeladen. An zwei Abenden präsentierte Christopher Rüping, der sprechtheateraffine Hausregisseur der Kammerspiele, im Deutschen Theater seine Inszenierung - am Donnerstag eine »von Brecht«, am Freitag eine »nach Brecht«.
Rüping interessiert sich vor allem darum für diesen Stoff, weil der späte Brecht dieses Stück des jungen Brecht ganz und gar nicht gut fand. Der Kriegsheimkehrer Andreas Kragler findet darin im Berlin des Jahres 1919 seine Verlobte Anna Balicke in den Armen von Friedrich Murk, der nicht an die Front musste. Kragler schließt sich den Aufständischen in der Stadt an, während Anna sich besinnt und ihren einstigen Geliebten zurückgewinnen möchte. Kragler zögert nur kurz. Er kehrt der Revolte den Rücken und geht mit seiner Frau nach Hause, ins »große, weiße, breite Bett«. Bertolt Brecht haderte zeitlebens mit diesem Ende. Weil er sein jugendliches Ich nicht verleugnen wollte, schrieb er den Text nicht um. Das erledigt Rüping mit seinem Ensemble nun, 95 Jahre nach der an den Münchner Kammerspielen erfolgten Uraufführung: In einem alternativen Ende entscheidet sich Kragler nicht für die Liebe, sondern für die Revolution. Das Publikum möge also selber entscheiden, welcher Schluss zum Happy End taugt.
In jedem Fall versprüht diese Darbietung vom ersten Szenenbild an einen Theaterzauber, wie er selbst dort heutzutage kaum mehr existiert, wo sich die Bewahrer des Schönen und Guten wähnen. Die Bühne von Jonathan Mertz und die Kostüme von Lene Schwind sind so konstruiert, wie sie 1922 vielleicht ausgesehen haben. Im Zuschauerraum hängen Plakate, die mit schwarzer Schrift auf weißem Grund den berühmtesten Ausspruch des Stückes vermitteln: »Glotzt nicht so romantisch!« Auf Stellwänden prangen die in liebevoller Unbeholfenheit dahingekritzelten Silhouetten der Stadt, von oben leuchtet proletarierwarm der blutrote Pappmond.
Die Wohnung der Balickes: blassgraue Tapeten, biedere Möbel, bürgerliche Menschen. Rüping lässt Anna (Wiebke Mollenhauer) und deren Eltern (Wiebke Puls, Hannes Hellmann) die ersten drei Akte mit einer Ernsthaftigkeit spielen, die immer wieder Lacher im Publikum provoziert und darum nur sehr knapp an einer unfreiwilligen Parodie vorbeischrammt. Karl Balicke gibt den hartherzlichen Patriarchen, der mit der Haltung des »Das tut mir mehr weh als dir!« seiner Tochter mit sonorer Stimme, aber doch kompromisslos den Kriegsgewinnler Murk als Ehemann aufzwingt. Mit erstaunlicher Präzision wiederum füllt die ganz in Schwarz gekleidete Amalie Balicke ihre Rabenmutterrolle aus, ohne auch nur den Hauch eines Zweifels zuzulassen daran, dass niemand anders als sie hier als personifizierter Expressionismus über die Bühne trampelt.
Ambivalenz und Verwirrung entstehen erst, als Anna sich endlich für Murk (Nils Kahnwald) entschieden hat und Kragler (Christian Löber) mit verdrecktem Gesicht zur Tür hereinspaziert. Mit diesem tot geglaubten Kerl steht plötzlich auch das Politische in diesem privaten Raum. Zuvor hat bestenfalls der Herr des Hauses dann und wann »Spartakusbund!« geschrien, als handele es sich dabei um eine Sekte, die das Schlachten von Kindern als luststeigernd lobpreist. Die Räterepublik ist im Haus der Balickes angekommen, und das Rot des darüber baumelnden Mondes vertieft sich.
Von den Kämpfen im Berliner Zeitungsviertel ist wenig zu sehen. Stattdessen hat Damian Rebgetz in der Mitte dieser zweistündigen Aufführung als Journalist Babusch einen großen Auftritt. Er schiebt eine Jukebox herein und kommentiert anschließend als singender Alleinunterhalter das amouröse und revolutionäre Geschehen mithilfe legendärer Kleinodien der Popkultur wie »Billy Jean« von Michael Jackson oder »What’s up« von 4 Non Blondes. Und dann: vierter Akt, »Der Schnapstanz«. Das magische Bühnenbild muss nach hinten weichen, von der Decke fahren zu klassischer Musik grell leuchtende Ungetüme herunter, als hätte man sich aus dem laufenden Programm gezappt und wäre bei Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« gelandet.
Jetzt wird aus dem Schauspiel doch noch eine Performance. Das Ensemble trägt den Text über Mikrofone vor, das Revolutionsstück transformiert sich zur szenischen Science-Fiction-Lesung. Andreas Kragler pöbelt in den Raum hinein, aber Anna schnappt ihn in Brechts Version der besseren Welt von morgen vor der Nase weg. Murk reißt wütend den Mond ab, derweil die Techniker das Bühnenbild demontieren, zertrümmern, schreddern. Im letzten Akt, »Das Bett«, ist die Bühne nackt und leer, pur und unschuldig. Murk bleibt zurück. Er ist ein Häuflein Elend, das ins Publikum glotzt - mitleiderregend und romantisch. In der Fassung »von Brecht« fiel die Entscheidung für die bürgerliche Sicherheit als Absage an Traum, Vision und Utopie. In der Variante »nach Brecht« obsiegt der Kampf für den Umsturz.
Das ist Rüpings demokratisches Theater: Der 32-Jährige hat für jeden Geschmack etwas eingebaut. Der Tageszeitung »Die Welt« sagte er vor wenigen Tagen: »Wenn Regisseure ausschließlich mit ihrer eigenen Handschrift beschäftigt sind, finde ich das fatal.« Er wolle sein Ensemble nicht als formbare Masse begreifen: »Jeder und jede soll in der Inszenierung seinen Fußabdruck hinterlassen dürfen.« Worin er in Zeiten der Kampagne MeToo die beste Handlungsoption des Theaterbetriebs sieht? »Aufhören, die Arschlöcher zu hypen.«
Das richtet sich offenbar gegen ein Schauspiel, für das Theaterpotentaten wie Claus Peymann oder Frank Castorf stehen. Vielleicht ist es ja das, was die seit Jahrzehnten in politischer Vielfalt nicht eben geübten Bayern so irritiert: dass da ein Intendant mit Hausregisseur und Ensemble ein Stadttheater umkrempelt, ohne dass darunter die Kunst leidet.
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