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- Katholikentag in Münster
Völlig willenlos
Bernd Zeller ist - angeregt vom Kirchentag - dem Idealzustand der Gesellschaft auf der Spur
Unser heutiger Bericht würdigt die Kanzlerin dafür, sich als unangefochtene moralische Instanz und spirituelle Führerin erwiesen zu haben, und das auch noch auf dem Katholikentag. Auch wenn nicht mehr alle wissen, wer die Katholiken waren, kennt man doch die Institution der Kirche aus der Zeit, als das Volk mit Religion einen billigen Opiumersatz verabreicht bekam. Nachdem der gestiegene Konsum von stofflichen Drogen den vergeistigten Ersatz überflüssig machte, versuchten sich die klerikalen Betriebe darin, etwa dem Dalai Lama in der Vermittlung spiritueller und moralphilosophischer Angebote Konkurrenz zu machen. Dies nun ist von Angela Merkel zur Vollendung geführt worden, indem sie auf dem Katholikentag eine dialektische Aufhebung von Kategorischem Imperativ und Goldener Regel vollbrachte - mit dem jetzt schon ewig gültigen Lehrsatz: »Wenn jeder macht, was er will, ist das schlecht.«
Damit hat sie nicht nur das lang ersehnte Ende der Spaßgesellschaft ausgerufen, in der es die Zielsetzung war, dass jeder macht, was er will, oder besser gesagt: worauf er sogenannten Bock hat. Merkel hat auch das Unwerturteil über den Machbarkeitswahn gefällt, der alles für möglich hält, was einer aktuellen Laune entspringt.
Angerissen ist damit auch die philosophische Frage nach der Existenz eines freien Willens. Manche vertreten die Auffassung, es gäbe ihn, sind aber nicht in der Lage, dies denen zu beweisen, die das nicht glauben wollen. Andere meinen deshalb, einen freien Willen könne es gar nicht geben, weil die Natur so etwas nicht ermöglicht und weil Exemplare einer Gattung, die einen solchen freien Willen hätten, keinen evolutionären Vorteil gehabt haben könnten. Die Anhänger dieser Richtung vertreten ihre Ansichten dementsprechend äußerst vehement, als wollten sie demonstrieren, einer Gruppenmeinung untergeordnet zu sein und keinesfalls eine eigene, selbst gedachte Überzeugung zu verfechten. Beide Denkschulen vereinheitlicht die Kanzlerin in der Konsequenz, dass unabhängig davon, wie der Wille zustande kommt, schlecht ist, wenn jeder den seinigen ausführt.
Es muss also mindestens immer einen geben, der nicht macht, was er will.
Das heißt, moralisches Verhalten ist gewährleistet, wenn man selbst gewiss sein kann, dass die Maxime seines Handelns nicht dem eigenen Willen entspricht. Dann ist sicher, dass mindestens einer nicht tut, was er will; somit macht nicht jeder, was er will, und die hinreichende Bedingung für das Schlechte ist nicht erfüllt.
Die Kanzlerin hat ihren Satz aber auch auf die Kunst der Politik bezogen. Dann muss man, moralischen Anspruch ihrerseits voraussetzend, davon ausgehen, dass sie auf dem Katholikentag sprach, ohne dies überhaupt zu wollen. Aber nicht nur dies, auch sonst macht sie nicht, was sie will, denn das wäre schlecht. Sie macht, was sie nicht will, um das Schlechte zu bannen. Da jedoch nur die hinreichende Bedingung, nicht die notwendige, verhindert wird, muss sie dafür sorgen, dass alle, auf die sie einen Einfluss hat, nicht machen, was sie wollen, sondern machen, was sie nicht wollen.
Jetzt gibt es viele, die das nicht überrascht und die sagen: Ja, das heißt bei uns GroKo. Doch das genügt nicht. Auch Lehrer, Juristen, Theaterregisseure, Fernsehautoren, sie alle sind gehalten, anderes zu tun, als es ihrem Willen entspräche, ebenso dem ihrer Kundschaft. Die Konsumenten von Politik und Kultur müssen sich um die moralischen Standards des Landes verdient machen, indem sie sich Produkte bieten lassen, die sie nicht wollen, und befinden sich damit in Übereinstimmung mit den Erzeugern. Die Akzeptanz trotz Ablehnung ist es, mit der wir die Spaltung der Gesellschaft verhindern.
Allerdings darf man wiederum das Gute nicht bezwecken, denn dann käme man in das Dilemma zu wollen, was man nicht will. Das Beste ist, man will gar nichts und tut nur, was verlangt wird.
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