Ich habe den ESC gewonnen

Dass die Israelin Netta Barzilai den Eurovision Song Contest gewann, war ein Sieg für alle dicken Menschen, findet Paula Irmschler

  • Paula Irmschler
  • Lesedauer: 3 Min.

Für viele dicke Menschen ist der Zeitpunkt des Jahres, an dem sie sich das erste Mal wieder ihrer winterlichen Jacke entledigen müssen, ziemlich belastend. Dann wissen nämlich alle, dass man einen Bauch hat und wie lange wurde einem immer wieder eingetrichtert, dass das etwas Schlechtes, Ekliges, Zuvieliges ist? Die Zurichtung findet überall statt: Zuhause, in Beziehungen, auf der Straße, im Job, in Medien. Dicke Menschen, die wie auch immer in der Öffentlichkeit stehen, sind ein Skandal. Frauenzeitschriften sind voll mit Schlagzeilen über Prominente, die zugenommen haben, »sich gehen lassen«, »aus dem Leim gehen« - wie auch immer man eben ausdrücken mag, dass man seine Vorstellungen davon, was ein richtiger und was ein falscher Körper ist, anderen aufzudrängen versucht. Dazu dann noch die üblichen Tipps, wie man »in Shape kommt« (als wäre man sonst nur flüssige Materie, die es aufzusaugen gilt) und die richtigen Schimpfwörter, um um den fetten Brei zu reden, und schon haben Konsumenten die perfekte Anleitung, wie sie auch in ihrem Umfeld Dicke wie Monster behandeln können.

Denn dicke Menschen, insbesondere Frauen, scheinen eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse zu sein. Jeder darf sie dank breitgesellschaftlicher Absolution kommentieren, bewerten, bevormunden, jeder scheint eine Meinung zu ihnen zu haben und sie, auch laut und gewaltvoll, rauszuposaunen ist das normalste der Welt. Sie stehen unter ständiger Beobachtung. Wenn sie essen, weiß man Bescheid, ach so, daher kommt es: Sie essen! Und über ihre Gesundheit weiß man ebenfalls alles, alle werden plötzlich zu Ärzten, Ernährungsberatern und Gesundheitsjunkies. Wenn sich Schlanke drei Burger und ordentlich Milchshake reinfahren, findet man das süß und beeindruckend, wenn Rockstars rauchen und saufen, gehört das dazu, dicke Menschen jedoch sind auf Verdacht stets faule, ungesunde Fressmonster.

Abgebügelt

Paula Irmschler ist freie Autorin und kümmert sich an dieser Stelle alle 14 Tage um Dinge, denen man nur mit Heißdampf begegnen kann. Die Kolumne unter: dasND.de/abgebuegelt

Und sie sind außerdem auch alle gleich. Sie sind lustig, gemütlich, stark und, sobald sie sich mal nicht unter einem riesigen Laken verhüllen, gelten sie als schrill und mutig. Sie müssen wohl ganz schön selbstbewusst sein, wenn sie sich so in die Öffentlichkeit trauen. Wenn sie sich trauen, Dinge, die alle Menschen tun, einfach auch zu machen. Als wären sie Menschen und nicht ebenjene Fressmonster! Ihr Öffentlichsein muss also ein Statement sein. Sich nicht zu verstecken, wie es normal für dicke Menschen sein sollte, ja, wie es erwünscht ist, muss eine Botschaft beinhalten.

Als letzte Woche die Israelin Netta Barzilai, perfekt in Shape, den Eurovision Song Contest gewann, haben wir dicken Menschen also alle gewonnen. Nicht nur, weil Arschlöcher uns eh alle für dieselbe halten (ständige Vergleiche mit Adele, Beth Ditto und so weiter), sondern weil Netta einfach darauf pfeift, beziehungsweise gackert.

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