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Surreale Zustände in Caracas
Vor den Wahlen am Sonntag könnte die Lage in Venezuela nicht unübersichtlicher sein
Rot, die Farbe des Chavismus, dominiert an diesem Donnerstagnachmittag die Avenida Bolívar im Zentrum der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Busse haben Regierungsanhänger aus allen Teilen des Landes auf die Wahlkampfabschlussveranstaltung von Präsident Nicolás Maduro gebracht. Einige Zehntausend Menschen mögen es sein, die meisten in Maduro- oder Hugo Chávez-Shirts. »Es sind weniger Leute als früher«, sagt Escarlet Madrid. Die Mittvierzigerin arbeitet als Näherin und ist überzeugte Chavistin. »Früher waren die Avenida und selbst die Seitenstraßen brechend voll.« Es ist nicht mehr wie unter Chávez, muss sie zugeben. »Die Wirtschaftslage hat sich verschlechtert, es wird immer schwieriger Lebensmittel zu besorgen, die Preise steigen und steigen.« Immerhin gebe es die staatlichen Sozialprogramme, über die ein Teil der Grundnahrungsmittel zu stark subventionierten Preisen verteilt werde. Schuld an der Misere habe aber ohnehin die Oberschicht, die die Produktion boykottiere und künstlich für Lebensmittelknappheit sorge. Am Sonntag werde sie deshalb Maduro ihre Stimme geben, sagt Escarlet. Dieser sei zwar nicht wie Chávez, aber doch dessen Erbe. Vor Chávez ging es ihnen noch schlechter als heute: »Früher hatten wir weder eine Stimme, noch wurden wir gehört«, sagt sie.
In anderen Teilen der Stadt ist von Wahlkampf dagegen wenig zu spüren. In Altamira, im Osten von Caracas, wo die obere Mittelschicht zu Hause ist, Hochburg der Opposition, künden einzig ein paar Wahlplakate vom Urnengang am Sonntag. Dass hier im vergangenen Jahr noch fast täglich zum Teil gewaltsam demonstriert wurde erscheint aus einer anderen Zeit. »Die Repression und die Einberufung der Verfassungsgebenden Versammlung, die das von der Opposition dominierte Parlament entmachtet hat, haben die Leute entmutigt«, sagt eine Investigativjournalistin, die für ein regierungskritisches Onlinemedium schreibt und deshalb ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Sie spricht von einer »deprimierten Gesellschaft«. »Die Leute sind mit dem Überleben beschäftigt«, sagt sie. »Auch wenn die Versorgungskrise nicht mehr so schlimm ist, wie noch vor einem Jahr. Es gibt viele Sachen in den Läden, aber nur sehr wenige können sie sich leisten. Deshalb sind die Warteschlangen verschwunden.«
Stattdessen herrscht Hyperinflation. Der IMF prognostiziert für 2018 eine Preissteigerung von 14 000 Prozent. Eine sehr konservative Einschätzung, sagen andere Experten, und nennen gar sechstellige Prozentzahlen. Der offizielle Dollarkurs liegt bei 70 000 Bolívar; auf dem Schwarzmarkt werden mehr als 800 000 Bolívares für einen Greenback fällig. Der Mindestlohn, gerade erst zum wiederholten Male erhöht, liegt inklusive Lebensmittelbonus bei knapp 2,5 Millionen Bolívares. Dafür bekommt man gerade einmal einen Karton Eier, allerdings auch mehrere Tanklasterladungen Benzin. Surreale Zustände.
Angesichts der bevorstehenden Wahlen hat die Opposition zum Boykott aufgerufen. »Ich bin für Wahlen, aber es muss Wahlmöglichkeiten geben«, sagt Tamara Adrián, Oppositionspolitikerin und erste Transgender-Abgeordnete Venezuelas. Den wichtigsten Oppositionspolitikern, wie Leopoldo López oder Henrique Capriles, und ihren Parteien wurde die Teilnahme an der Wahl untersagt.
Doch auch im Oppositionslager herrscht kein Konsens. Der frühere Gouverneur des Bundesstaates Lara, Henri Falcón, Ex-Chavist und später im Oppositionslager, hat seine Kandidatur erklärt. Beraten vom früheren Chefökonomen der Bank of America, Francisco Rodríguez, hat Falcón die Dollarisierung der Wirtschaft ins Spiel gebracht, um die Hyperinflation zu beenden. Gegner wiederum halten Falcón für ein »trojanisches Pferd der Regierung«.
Und dann ist da noch Javier Bertucci: Der evangelische Pastor und Geschäftsmann, dessen Name in den Panama Papers auftaucht, war bisher ein unbeschriebenes Blatt in der venezolanischen Politik. Ohne Partei im Rücken und mit biblischer Botschaft versucht er, sich sowohl vom Chavismus als auch der Opposition abzusetzen - macht aber wohl vor allem Falcón Stimmen streitig.
Aus Sicht von Luis Vicente León, Präsident des Marktforschungsinstituts Datanálisis, ist der große Fehler der Opposition nicht die Enthaltung, sondern die Spaltung. Es gebe durchaus Argumente für einen Boykott. »Du kannst boykottieren oder massiv wählen gehen, so dass es für die Regierung schwierig wird, die Mehrheit zu verstecken, aber bei einer Spaltung gelingt weder das eine noch das andere.« Die Enthaltung führe dazu, »dass die Regierung wahrscheinlich auch ohne Wahlbetrug gewinnt, obwohl sie drei Viertel der Bevölkerung gegen sich hat«, so León.
Aber das Problem, das Maduro den Schlaf raubt, sei ohnehin nicht die Opposition, glaubt der Meinungsforscher, sondern eine mögliche Implosion des Chavismus, ein Auseinanderbrechen von zivilem und militärischem Flügel. Aber ein solches Szenario sei derzeit nicht sehr wahrscheinlich. »Maduro wird gewinnen und es wird härtere Sanktionen geben. Kurzfristig sind das eher schlechte Aussichten.«
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