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- politisches Theater in Kiew
Wie die Ukraine den Mord an einem Journalisten inszenierte
Das Schauspiel des Inlandsgeheimdienstes und Babtschenkos wirft viele Fragen auf / Moskau, Reporter ohne Grenzen und OSZE üben Kritik
Der Schock in der der ukrainischen Zivilgesellschaft saß tief: Am Dienstagabend verbreitete sich die Nachricht des angeblichen Mordes am russischen Oppositionsjournalisten Arkadij Babtschenko in seinem Wohnblock in der ukrainischen Hauptstadt Kiew in Windeseile. Freunde und Kollegen des Exilrussen planten für Mittwochabend eine Gedenkveranstaltung auf dem Maidan-Platz - schließlich hatte der Militärjournalist und Blogger von der Maidan-Revolution größtenteils von dort berichtet. Doch am Nachmittag stand Arkadij Babtschenko plötzlich auf einer Pressekonferenz des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU: Der Journalist lebt, der Mord vom Dienstagabend wurde wegen einer Sonderoperation der Behörde vorgetäuscht.
»Ich will mich bei meiner Frau öffentlich entschuldigen. Bitte, Oletschka, verzeih es mir, aber es gab keinen anderen Weg«, sagte Babtschenko vor den schockierten Journalisten, die sich in dem SBU-Gebäude versammelt hatten. Und auch der ukrainische Präsident Petro Poroschenko, der angeblich als Einziger in der Präsidialverwaltung von dem Vorgehen wusste, erklärte später, ein anderer Ausweg wäre in dem Fall nicht vorhanden gewesen. SBU-Chef Wassyl Hryzak sowie der ukrainische Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko gaben sich vor den Fernsehkameras wegen der erfolgreich durchgeführten Operation sichtlich als Sieger. Doch was ist in Kiew am Dienstag und am Mittwoch tatsächlich passiert?
Wenn man der von dem SBU erzählten Geschichte glauben mag, lief es folgendermaßen ab: Der Inlandsgeheimdienst war in der Lage, den ukrainischen Staatsbürger G. festzunehmen, der angeblich von russischen Geheimdiensten mehrere Mordaufträge in der Ukraine bekommen hat. »Babtschenko sollte nur der Anfang des verbrecherischen Planes werden, als Motiv sollte seine Kritik an der russischen Staatsführung dienen«, erklärte Hryzak. Etwa 30 Morde sollten geplant sein, G. soll angeblich 40 000 US-Dollar dafür bekommen haben.
Einem ehemaligen Soldaten, der für die Ukraine im Donbass-Krieg kämpfte, sollen für die Durchführung des Mordes 30 000 US-Dollar versprochen worden sein. Generalstaatsanwalt Luzenko zufolge hat der Veteran mit den Ermittlern zusammengearbeitet. Als ultimativer Beweis wurde den Journalisten ein Video - von schlechter Qualität - vorgespielt, auf der die Übergabe der Vorzahlung von 15 000 Dollar von G. an den Ex-Soldaten zu sehen sein soll. Laut der ukrainischen Seite sollte der Mord an Babtschenko ursprünglich am Tag des Fußball-Champions-League-Finales durchgeführt werden, das am 26. Mai in Kiew stattfand.
Diese Darstellung mag auf den ersten Blick unglaublich klingen - und lässt auch auf den zweiten viele Fragen offen. War es denn nicht möglich, Babtschenko einfach in Sicherheit zu bringen, wenn die Behörden ohnehin schon mit dem Killer zusammenarbeiteten? War die Vortäuschung des Mordes notwendig? »Ohne die Inszenierung hätten wir zum Beispiel nicht an die vermeintliche Mordliste mit 30 Personen kommen können, was letztlich gelungen ist«, erklärt eine Sprecherin der Generalstaatsanwaltschaft. »Was der SBU mir erklärt hat, klang völlig plausibel«, sagte Arkadij Babtschenko selbst. »Ich habe volles Vertrauen in die Arbeit, die die Jungs geleistet haben.« Präsident Poroschenko lobte später die »glanzvolle Arbeit« des Geheimdienstes.
Weniger Verständnis die Inszenierung fand man allerdings im Büro des Medienbeauftragten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sowie bei Reportern ohne Grenzen (RoG): Zwar freue man sich außerordentlich über die Tatsache, dass Babtschenko lebt, finde aber die Aktion gerade in der Zeit der Vertrauenskrise der Medien inakzeptabel: »Nichts rechtfertigt die Vortäuschung des Mordes an dem Journalisten«, betonte RoG-Generalsekretär Christophe Deloire. In der ukrainischen Gesellschaft löste die SBU-Operation ähnlich gemischte Gefühle aus: Neben der Freude um das Überleben Babtschenkos stellen sich viele die Frage, ob ein solcher Vorgang tatsächlich notwendig war.
Bereits vor der schon jetzt berühmt-berüchtigten Pressekonferenz kam aus Russland die Kritik, die Ukraine sei unfähig, für elementare Sicherheit zu sorgen. Und nach dem Bekanntwerden der Inszenierung des Mordes legte das Außenministerium nach. Die Vortäuschung sei »eine weitere antirussische Provokation Kiews«, hieß es aus Moskau. »Die ukrainische Staatsführung fährt ihren Kurs der Verbreitung der russophoben Lügen weiter.«
Klar ist: Der Geheimdienst SBU war bisher nicht in der Lage, die Notwendigkeit der Operation ausdrücklich zu belegen oder irgendeine Verbindung zwischen dem festgenommen Bürger G. und russischen Geheimdiensten nachzuweisen. Aber gerade nach den gespaltenen internationalen Reaktionen ist der SBU in der Pflicht, tragfähige Beweise in den nächsten Tagen und Wochen vorzulegen. Sonst droht der Ukraine ein großer Imageverlust. Seiten 4 und 17
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