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Die Leiche lebt
Der Kampf gegen den Islamischen Staat stockt, die Dschihadisten sammeln sich neu
Man habe Berichte »über seltsame Geschehnisse im al-Tanf-Gebiet«, sagte Sergei Lawrow vor wenigen Tagen. Da gehe es, so der russische Außenminister etwas mystisch weiter, um eine Zunahme der Präsenz von militanten Gruppen, »einschließlich derer, von denen wir glauben, dass sie auf die eine oder andere Weise mit dem Islamischen Staat verbunden sind«. Russlands Regierung verdächtigt die USA also eines Frontwechsels. Man warnt davor, Dschihadisten zu unterstützen. Das Misstrauen ist begründet. Moskau kennt derlei Taktik aus Afghanistan.
Das al-Tanf-Gebiet liegt an der strategisch wichtigen Schnittstelle zwischen Irak, Syrien und Jordanien. Hier haben die USA seit langem einen Fuß in Syrien, hier bilden sie ihnen zugetane Kämpfer aus. Immer wieder kam es dort zu Scharmützeln zwischen iranischen Einheiten, die auf der Seite des syrischen Regimes kämpfen, und den westlichen Hilfstruppen, die dann von den USA aus der Luft unterstützt wurden.
Womöglich übertreibt Lawrow mit der US-Nähe zu IS-Terroristen. Auffällig jedoch ist, dass es seit einiger Zeit von westlicher Seite keine Meldungen mehr über siegreiche Schlachten gegen den IS gibt. Der Krieg macht eine - aus militärischer Sicht höchst fragwürdige - Pause.
Mit ihrer »Operation Inherent Resolve« haben die westlichen Koalitionäre, zu denen auch Deutschland gehört, in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte bei der Bekämpfung des islamistisch geprägten und militärisch aufgestellten Terrorismus in Irak und Syrien gemacht. Man flog Tausende Luftangriffe und setzte am Boden Ausbilder und Spezialtruppen ein.
In Irak unterstützte der Westen die Zentralregierung und die kurdischen Peschmerga-Einheiten im Norden des Landes. Die Lage war und ist relativ übersichtlich. Anders in Syrien. Hier gewann das Assad-Regime - unterstützt von russischen und iranischen Truppen sowie von der Hisbollah aus Libanon - die militärische Initiative zurück. Erfolgreich kämpfte die syrische Armee jüngst bei der seit Jahren belagerten Stadt Deir ez-Zor und den nahen Ölfeldern sowie in Regionen nahe der Hauptstadt Damaskus. Doch mit diesen Kräften will die westliche Zweckgemeinschaft kein Bündnis eingehen. Im Gegenteil, man will sie schwächen und den Assad-Clan vertreiben. So sind insbesondere die USA auf die Kämpfer der Syrian Democratic Forces (SDF) angewiesen. Das ist eine breite Koalition, zu der vor allem kurdische Volksverteidigungseinheiten (YPG) und arabische Milizen gehören. Gemeinsam verjagte man im Herbst - erstaunlich leicht - den IS aus seiner Hochburg Rakka.
Das einst riesige Herrschaftsgebiet des IS, das weite und wichtige Teile von Syrien und Irak einschloss, schmolz zusammen. Der IS zog sich ins Euphrat-Gebiet und in einige andere Exklaven zurück, die militärstrategisch nicht allzu bedeutsam sind. Dort sind die Dschihadisten derzeit relativ unbehelligt, können ihren Traum vom Kalifat weiterleben und ihre Propaganda ungestört in alle Welt senden. Nicht ohne Erfolg, wie diverse Anschläge auch in Europa und nicht versiegende Solidarität zeigen.
Statt den Schwung bisheriger Angriffe zu nutzen und die restlichen Gruppierungen des IS militärisch endgültig zu zerschlagen, wurden die erfolgreichen Einheiten der SDF umgruppiert. Der Grund: Die USA standen plötzlich ohne Bodentruppen da. Die Türkei hatte eine Offensive vor allem gegen die kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens gestartet. Die von Präsident Erdogan ausgeschickten Truppen nahmen die strategisch wichtige Stadt Afrin ein. Der Angriff war absehbar, denn gerade dort hatte die durch US-Hilfe und eigene Kampferfolge zu Ansehen gelangte YPG ihr Hinterland. Was der Türkei, die die YPG als Terrortruppe und syrischen Ableger der »hauseigenen« PKK betrachtet, nicht gefallen konnte.
Doch schon bevor es zu diesen neuen Auseinandersetzungen über die Neuaufteilung Syriens gekommen ist, hatte das Interesse Washingtons an einer starken YPG spürbar nachgelassen. Denn sie hatte nicht verhindern können, dass syrische Truppen nahe der irakischen Grenze bei Al Bukamal eine Landverbindung zu Iran herstellen konnten. Durch sie öffnete sich auch ein Tor zur direkten Unterstützung der mit Iran verbündeten Hisbollah in Libanon. Das wiederum erzürnte den US-Verbündeten Israel. Für den jüdischen Staat ist die Hisbollah eine ernst zu nehmende Gefahr. Nun greift Israel mit seiner Luftwaffe wieder verstärkt in den Syrienkrieg ein. Durch den Wandel der US-Iran-Politik unter Präsident Donald Trump ist der Schulterschluss ohnehin enger geworden. Noch ist unklar, was aus der einseitigen Kündigung des Atomabkommens mit Iran folgt. Sollte es zu direkten Konfrontationen zwischen den USA und Israel auf der einen und Iran auf der anderen Seite kommen, ist das neues Öl im syrischen Brandherd.
Während sich die Augen Beteiligter auf die geopolitischen Entwicklungen im türkischen Grenzgebiet, auf die abermaligen Scharmützel im Gaza-Streifen und die Streitigkeiten um das Atomabkommen mit Teheran richteten, gerät der IS zunehmend aus dem Blick. Die Terroristen erholen sich, ändern ihre Taktik. Zwar ist die Truppe noch immer stark genug für begrenzte Offensiven, doch orientiert man sich nun eher an der ursprünglichen Guerillataktik.
Die mehreren tausend Kämpfer, die die SDF aus Rakka ins Euphrattal entkommen ließen, um einen verlustreichen Häuserkampf zu vermeiden, sind dabei eine gefährliche Kraft, die in bereits gesäuberte Provinzen einsickern könnte, um den wieder beginnenden Staatsaufbau zu stören. Ähnliches ist in Nordirak zu befürchten, wo Peschmerga - als Rache für den geplatzten Aufbau eines eigenen kurdischen Staates - vor dem Einmarsch irakischer Sicherheitskräfte noch Tausende IS-Kämpfer ins bergige Umland von Kirkuk entkommen ließen. Vergleichbare »Terroristenumsiedlungen« organisierte auch das Assad-Regime mit anderen Aufstandsgruppen und erkaufte sich so nur Siege auf Zeit.
Wer den IS - ob seiner militärischen Niederlagen - bereits ins Leichentuch gewickelt sah, war zu voreilig. Um den Krieg gegen ihn endgültig zu gewinnen, muss die viel zitierte internationale Gemeinschaft rasch und dauerhaft helfen, in den befreiten Gebieten Frieden zu gestalten, sozial gerecht - generell, aber auch zwischen den Ethnien und Glaubensrichtungen. Fehlende demokratisch legitimierte Staatlichkeit und mangelhafte Rechtssysteme sind gleichfalls ein Nährboden, auf dem der angeschlagene, doch nicht geschlagene IS neue Triebe bilden wird. Das gilt auch für den Sinai, Libyen, Somalia, Afghanistan oder Indonesien. Und ebenso für die Sicherheit in Europa.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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