Die Gier nach dem Verbrechen

Die Instrumentalisierung des Mordes an der 14-Jährigen Susanna reicht bis in die Mitte der Gesellschaft

  • Sebastian Weiermann und Johanna Treblin
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Donnerstag hatten die Eltern der 14-jährigen Susanna F. aus Mainz traurige Gewissheit. Ihre Tochter, seit dem 22. Mai vermisst, war vergewaltigt und ermordet worden. Die Polizei präsentierte direkt zwei Tatverdächtige: einen Flüchtling aus der Türkei und einen aus dem Irak. Der irakische Tatverdächtige hatte sich bereits vor einer knappen Woche in den Irak abgesetzt. Dort wurde er am Freitag gefasst und verhaftet. Der zweite Tatverdächtige war noch am Donnerstag freigelassen worden – die Staatsanwaltschaft sah keinen dringenden Verdacht, dass er an der Tat beteiligt gewesen war. Auf die Spuren der beiden hatte ein 13-jähriger Flüchtlingsjunge die Behörden gebracht.

Drei Menschen, die nach Deutschland geflohen sind. Einer von ihnen hat vermutlich ein grausames Verbrechen begangen, ein anderer wurde mutmaßlich unschuldig verdächtigt, daran beteiligt gewesen zu sein. Der Dritte hat maßgeblich zur Aufklärung beigetragen. Wer aus dem Verbrechen Rückschlüsse auf die deutsche Flüchtlingspolitik ziehen möchte, dem böten sich also selbst bei den banalsten Fakten ein differenziertes Bild. Doch für Differenz scheint derzeit kein Platz zu sein.

Minuten nachdem bekannt wurde, dass Susanna F. von einem Flüchtling ermordet worden sein soll, sind die sozialen Netzwerke voll mit Schuldzuschreibungen. »Merkels Goldjungen«, »Eine Tote mehr, für die Merkel verantwortlich ist!« und viele Sprüche mehr in Richtung der Bundesregierung. Schnell erscheint ein Video der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel, in dem sie den Rücktritt der Bundeskanzlerin fordert und die bekannten Details des Verbrechens schildert.

In der Nähe des Fundortes von Susannas Leiche bringt jemand ein Holzkreuz an. »Opfer der Toleranz« steht darauf geschrieben. Neonazi-Gruppen wie das »Syndikat 52« aus dem Raum Aachen äußern sich in sozialen Netzwerken ähnlich. Dass Susanna Jüdin war, ist den Antisemiten in diesem Fall offenbar egal. Es überwiegt die offenbar Lust, zum Hass gegen Flüchtlinge aufzustacheln.

Am Freitag inszeniert die AfD-Fraktion dann noch eine Gedenkminute im Bundestag. Von den anderen Parteien erntet sie dafür Unverständnis. Marco Buschmann von der FDP sagt, die Inszenierung habe in ihm »Fremdscham ausgelöst«. Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD, kritisiert, der Bundestag sei »ein Ort der Debatte, aber nicht der politischen Instrumentalisierung von Opfern«. Die AfD stört das freilich nicht.

Dass von Flüchtlingen und Migranten begangene Straftaten politisch instrumentalisiert werden, ist spätestens seit der Kölner Silvesternacht 2015/2016 und seit dem Mord an einem 15-jährigen Mädchen in Kandel Ende vergangenen Jahres bekannt. Doch eins hat sich seit diesen Ereignissen geändert: Das Gedankengut von AfD und der extremen Rechten ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Im Zuge des aktuellen »BAMF-Skandals« fordert die FDP einen Untersuchungsausschuss über die Asylpolitik der Bundesregierung. Das war im vergangenen Jahr bereits eine Wahlkampfforderung der AfD gewesen. Und die »Bild« fordert nach dem Mord an Susanna nun eine Entschuldigung der Bundesregierung bei den Angehörigen des Mädchens. »Das Einzige, was noch schlimmer ist als der Mord an einem Kind, ist der Mord an einem Kind durch einen Täter, der gar nicht in unserem Land hätte sein dürfen«, schreibt die »Bild«.

Der irakische Tatverdächtige Ali B. war bereits mehrfach polizeilich aufgefallen und auch mit der Vergewaltigung eines Kindes in Verbindung gebracht worden. Sein Asylantrag war im Dezember 2016 abgelehnt worden. B. klagte dagegen, das Urteil steht noch aus. Bei seiner Ausreise vor einer Woche zurück in den Irak soll er am Flughafen irakische Ersatzdokumente, sogenannte Laissez-Passer-Papiere, sowie deutsche Aufenthaltsgestattungen vorgelegt haben. »Die vorgelegten Dokumente waren echt, gültig und berechtigten zur Ausreise«, erklärte das Bundespolizeipräsidium nach Kritik am Freitag.
Rechte haben für die kommenden Wochen in Mainz und Wiesbaden zu Gedenkmärschen für Susanna angekündigt. Für Samstag hat die rheinland-pfälzische AfD-Landtagsfraktion zu einer Versammlung aufgerufen. Für eine »Mahnwache«, wie sie sie nennt, hat sie allerdings ein sehr politisches Motto: »Es reicht! Endlich Konsequenzen ziehen!«

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