• Politik
  • Gentrifizierung durch Digitalunternehmen

Kehrtwende nach Lobbydruck: Seattle schafft Amazon-Steuer ab

Linke Stadträtin Kshama Sawant spricht von »Verrat im Hinterzimmer« / Konzerninitiative hatte Unterschriften gesammelt um Bürgerentscheid zu erzwingen

  • Lesedauer: 3 Min.

Seattle. Nach massivem Druck von Amazon und anderer Firmen hat Seattle die geplante neue Job-Steuer zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit und zur Förderung von bezahlbarem Wohnraum wieder abgeschafft. Nach der Entscheidung von Mitte Mai sollten größere Unternehmen jährlich 275 Dollar pro Mitarbeiter zahlen. Seattle könne sowohl eine Stadt sein, die die »Zukunft erfindet« als auch eine die bezahlbar und gerecht sei, erklärte Bürgermeisterin Jenny Durkan damals. Nun kippte der Stadtrat das Vorhaben am späten Dienstag mit einer Mehrheit von sieben zu zwei Stimmen.

Die Steuer sollte für Unternehmen mit einem jährlichen Umsatz über 20 Millionen Dollar gelten. Bezahlt werden sollte für jeden Beschäftigten, der mindestens 1920 Stunden pro Jahr arbeitet. Nach Schätzungen des Stadtrats wären rund 585 Unternehmen davon betroffen gewesen - rund drei Prozent aller Firmen in Seattle.

Die Steuer sollte ab 2019 rund 47 Millionen Dollar jährlich für Wohnungsbau bringen und war zunächst auf fünf Jahre angesetzt. In der Stadt war zuletzt die Zahl der Obdachlosen stetig gewachsen, als ein Grund dafür wird der Anstieg der Mietpreise gesehen, weil Seattle in den letzten Jahren zunehmend zum Standort für Tech-Unternehmen geworden war. Aktivisten an der amerikanischen Westküste hatten in den letzten Monaten bei Protesten gegen die sozialen Folgen der Unternehmenspolitik von Digitalunternehmen wie Google, Facebook und Amazon den Begriff »techsploitation« in Umlauf gebracht – »Tech-Ausbeutung«.

Neben großen Arbeitgebern wie Amazon und Starbucks hatten in Seattle mehrere Dutzend andere Unternehmen die Steuer verurteilt und mit einer Lobbykampagne Druck gemacht.
Amazon, Starbucks, die Investmentfirma von Microsoft Ko-Gründer Paul Allen und andere finanzierten die Initiative »Keine Steuern auf Jobs«. Sie sammelten Unterschriften, um zu den Kongresswahlen im November einen Bürgerentscheid zur Abschaffung der Amazon-Steuer zu erzwingen. In den letzten Tagen war deutlich geworden, dass die Konzerninitiative genügend Unterstützerunterschriften sammeln würde, die Politik knickte ein.

»Wir haben Sie gehört«, erklärten Bürgermeisterin Durkan und sieben Mitglieder des Stadtrats in einer gemeinsamen Erklärung am Montag, die die Kehrtwende einleitete. Die Mehrheit im Stadtrat wollte offenbar keine monatelange Auseinandersetzung über Arbeitsplätze haben, obwohl die Arbeitslosigkeit vor Ort bei nur 3,1 Prozent liegt.

»Besteuert Amazon, nicht arbeitende Menschen«, forderten Aktivisten, die vergeblich vor Ort protestierten. Auch ein Amazon-Mitarbeiter äußerte sich in der Kommentarrunde im Stadtrat vor der Entscheidung wohlwollend: »Ich will alle möglichen Menschen in dieser Stadt haben, nicht nur Reiche«.

Die linke Stadträtin Kshama Sawant, eine treibende Kraft hinter der neuen Steuer, sprach auf Twitter dagegen von einem »Verrat im Hinterzimmer«. Einziges Politikziel der Stadt sei es offenbar, Amazon-Manager »glücklich zu machen«. Die Rücknahme des Vorhabens sei am Wochenende hinter ihrem Rücken eingefädelt worden. Amazon zeigte sich nach der Entscheidung zufrieden, es sei die »richtige Entscheidung« gewesen, erklärte eine Sprecherin. Bereits Mitte Mai hatten Amazon-Manager der Stadt erklärt mit der Steuer könne das Obdachlosen-Problem nicht gelöst werden und behauptet die Stadt habe »kein Einnahme-, sondern ein Effizienz-Problem«.

Der Betrag von 275 Dollar war bereits ein von Bürgermeisterin Durkan mit Amazon ausgehandelter Kompromissvorschlag statt der ursprünglich angepeilten 500 Dollar pro Mitarbeiter. Amazon wäre mit seinen mehr als 45 000 Mitarbeitern in der Stadt auf einen Betrag von elf Millionen Dollar pro Jahr gekommen. Der weltgrößte Online-Händler hatte wegen der Steuer die Ausbaupläne in seiner Heimatstadt in Frage gestellt.

Auch in anderen Städten an der US-Westküste, wie Mountain View, East Palo Alto und San Francisco, wurde in den letzten Monaten über eine lokale Amazon-Steuer debattiert. Die Städte wollen so große Unternehmen, vor allem aber die lokal dominierenden Tech-Riesen, an den gesellschaftlichen Kosten für die steigende Ungleichheit vor Ort und die Verteuerung von Wohnraum, ausgelöst durch die Digitalunternehmen, beteiligen. mwi/dpa

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.