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Die letzte Europäerin

Der Widerstand gegen die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin wächst - auch in der eigenen Partei

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 5 Min.

Kurz sah es am Donnerstag so aus, als stünde das Ende der Ära Merkel unmittelbar bevor. Der Bundestag hatte seine Sitzung für mehrere Stunden unterbrochen, damit die Abgeordneten von CDU und CSU auf separaten Sondersitzungen ihre Positionen zum neuen Flüchtlingsstreit zwischen den Schwesterparteien diskutieren konnten. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprach unmittelbar vor Beginn des überraschend angesetzten Treffens seiner Landesgruppe von einer »historischen Situation«. Die CSU wolle, »dass an den Grenzen Zurückweisungen stattfinden von Asylbewerbern, die in anderen europäischen Ländern registriert sind.«

Damit hatte er die Position seiner Partei und vor allem die seines Bundesinnenministers Horst Seehofer auf den Punkt gebracht. Doch die stets strategisch denkende Kanzlerin hat sich strikt gegen die Zurückweisungen ausgesprochen hat, weil sie eine gesamteuropäische Lösung erschweren würden. Ein Treffen zwischen Seehofer und Merkel am Mittwochabend, auf dem mögliche Kompromisse ausgelotet werden sollten, endete nach drei Stunden ergebnislos. Die Kanzlerin soll auf dem Krisentreffen für bilaterale Vereinbarungen mit den am stärksten vom Migrationsdruck betroffenen Ländern geworben haben, berichtete die Nachrichtenagentur dpa später. Doch Seehofer ließ sich darauf nicht ein. Damit erlebt der Streit um die Flüchtlingspolitik zwischen beiden Unionspolitikern eine Neuauflage.

Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder, der zu Hause einen Wahlkampf zu gewinnen hat, schwor die Abgeordneten seiner Landesgruppe am Donnerstag auf ein »Endspiel um die Glaubwürdigkeit« ein. »Wir müssen jetzt durch Handlung beweisen, dass wir für unsere Haltung stehen«, sagte Söder nach Informationen des Redaktionsnetzwerkes Deutschland. Seehofers Intimfeind Söder stärkt dem Horst so den Rücken und setzt ihn gleichzeitig unter Druck, nicht auf Kompromisse einzugehen.

Dass Seehofer in der Sache keine Zugeständnisse machen will, belegte er am Donnerstag noch einmal eindrucksvoll. Notfalls werde er die Zurückweisung von Asylsuchenden per Ministerentscheid anweisen und dazu am kommenden Montag den Auftrag des CSU-Vorstandes einholen, erklärte der Innenminister auf der Sondersitzung der CSU-Landesgruppe. Deren Chef Alexander Dobrindt sagte nach der Sitzung, Teile des Masterplanes von Seehofer stünden »in der direkten Verantwortung des Bundesinnenministers« und sollten daher umgesetzt werden, ohne auf eine Einigung auf EU-Ebene zu warten. Tatsächlich könnte Seehofer die Bundespolizei anweisen, Asylbewerber zurückzuschicken. In diesem Fall könnte Merkel ihn nur entlassen, was aber das Ende der Koalition bedeuten würde. Die CSU ist auf Konfrontationskurs und setzt mit der Ankündigung, am kommenden Montag den Vorstand Seehofers Pläne abnicken zu lassen, der Kanzlerin ein Ultimatum. Innerhalb kürzester Zeit schlitterte Merkel so in eine der schwersten Krisen ihrer Regierungszeit. Gleichzeitig durchkreuzen die Bayern Merkels Pläne, auf dem anstehenden EU-Gipfel in Brüssel am 28. und 29. Juni eine europäische Lösung voranzutreiben. Zudem trifft sich Merkel in den nächsten Tagen mit dem neuen italienischen Regierungschef Giuseppe Conte und mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die Flüchtlingsfrage steht sicher auf der Agenda beider Treffen.

Mit Blick auf den Gipfel warnte CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer am Donnerstag, man mache die eigene Verhandlungsposition nicht dadurch besser, dass man mit nationalen Alleingängen beginne. »Die Chance, die ist vor der Tür, und die sollte man jetzt nutzen«, so Kramp-Karrenbauer. Allerdings bezweifeln Beobachter, dass es in Brüssel zu einer Einigung im Asylstreit kommen könnte. So hatten die EU-Innenminister auf ihrem Treffen in Luxemburg vor wenigen Tagen keine gemeinsame Position finden können. Zu unterschiedlich die Interessen von Staaten wie Italien und Griechenland, die Erstaufnahmenländer für übers Mittelmeer kommende Flüchtlinge sind und jenen Staaten, die keine EU-Außengrenze haben.

Wie ernst die Situation für die Kanzlerin ist, zeigte sich bereits am Dienstag, als sich auf der gemeinsamen Fraktionssitzung von CDU und CSU keine Fürsprecher für ihre Politik der offenen Binnengrenzen fanden. Die »Bild«-Zeitung, die seit Wochen eine Flüchtlingskampagne gegen die Kanzlerin fährt, ließ den CDU-Hinterbänkler Axel Fischer am Donnerstag sogar die Vertrauensfrage ins Spiel bringen. »Seit 2015 diskutieren wir über dieses Thema. Irgendwann muss man Entscheidungen treffen, notfalls auch mit einer Vertrauensfrage«, so Fischer. »Bild« befragte zudem alle 246 Unionsabgeordneten im Bundestag, von denen sich lediglich drei klar hinter Merkel stellten. Allerdings hatte die Mehrheit der Abgeordneten gar nicht auf die E-Mail der Springer-Redakteure geantwortet. Insofern bleibt fraglich, ob sich die schweigende Mehrheit der CDU-Abgeordneten im Ernstfall tatsächlich gegen Merkels Kurs stellen wird.

Auf der Sitzung am Donnerstag ging es jedenfalls hoch her. Mächtige CDU-Abgeordnete wie Patrick Sensburg oder Armin Schuster hatten gegenüber »Bild« ganz offen erklärt, Merkels Position in der Frage nicht zu teilen. Der Korrespondent der »Welt« beobachtete, wie ein »erfahrener CSU-MdB« auf der Fraktionsebene CDU-Abgeordneten vor Journalisten anherrschte: »Ihr spinnt doch. Der Merkel ist das d(eu)t(sche) Volk egal, der Merkel sind die Abgeordneten egal. Und ihr lasst euch erzählen, sie sei die letzte Super-Europäerin«, schrieb Robin Alexander auf dem Kurznachrichtendienst »Twitter«.

Trotzdem hieß es nach der Sitzung, die Kanzlerin sehe sich durch die »weit überwiegend positive Reaktion der CDU-Bundestagsabgeordneten auf ihren europapolitischen Asylkurs gestärkt«, wie die Nachrichtenagentur DPA meldete. Sie wolle die zwei Wochen bis zum EU-Gipfel nutzen und ausloten, wie weit sie mit den von ihr anvisierten bilateralen Abkommen mit jenen Ländern kommen könne, die am stärksten dem Migrationsdruck ausgesetzt seien, sagte Merkel.

Nicht alle Fraktionsmitglieder teilten ihre Wahrnehmung. Paul Ziemiak, Chef der Jungen Union und Merkel-Kritiker, erklärte im Anschluss an das Treffen: »Die Stimmung war so, dass die Kanzlerin Unterstützung bekommen hat, in den nächsten zwei Wochen bis zum Europäischen Rat Lösungsversuche herbeizuführen.« Das klang wie ein zweites Ultimatum, diesmal aus der eigenen Partei.

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