- Politik
- Liberalismus und Sozialismus
Gründlich geblitzdingst
Unkorrekte Bemerkungen zur Geschichte, Gegenwart und permanenten Bedrohung des Liberalismus
Mit dem Liberalismus ist es wie in dem Hollywoodfilm »Men in Black«. Darin laufen Agenten einer geheimen Regierungsagentur zur Regulierung des Außerirdischenwesens umher, um die Unbotmäßigen unter jenen gewürm- oder schleimartigen Extraterrestrischen zu eliminieren, die längst in Massen unter uns weilen. Um dabei keine Panik auszulösen, haben sie das »Blitzdings« dabei: Einen handlichen Apparat, den man Augenzeugen vors Gesicht hält, einmal abdrückt und – Blitz! – haben diese alles vergessen: Außerirdische gibt es gar nicht!
Offensichtlich ist der Liberalismus im Besitz eines solchen Apparates. Man beurteilt ihn stets gegenwartsbezogen, nach seinen jeweils verkündeten Idealen und nicht anhand seiner tatsächlichen Geschichte. Das ist so ähnlich wie bei seiner Verwandten namens Moderne. »Modern« ist landläufig ein Synonym für fortschrittlich, traditionsentrümpelt, auf der Höhe der Zeit. Dabei hat die Moderne, wenn man das Wort einmal als historischen Epochenbegriff verwendet und nicht als zeitloses Werturteil, eine Menge auf dem Kerbholz.
In der Zeitspanne, die im 19. Jahrhundert mit der Dampfmaschine begann, entstanden ja nicht nur hilfreiche Technologien, verbindliches Recht und bürokratische Herrschaft, die bei allem Gejammer viel angenehmer ist als die frühere persönliche Unterwerfung. Sondern eben auch die grausamsten Kriege und tödlichsten Waffen, die schlimmsten Umweltvergiftungen und nicht zuletzt die bösartigsten politischen Systeme, die die Menschheit je zustande gebracht hat. Nur gilt eine stillschweigende Vereinbarung, dass nur Positives »modern« heißen darf.
Besonders plastisch wird das in Deutschland hinsichtlich der Nazizeit. So entfachte der einstige Historiker und heutige Fitnessguru Rainer Zitelmann 1991 eine epische Empörung, als er Hitlers Reich als Modernisierungsdiktatur beschrieb: Es setzte den Rechtsstaat außer Kraft, hetzte gegen moderne Kunst und propagierte eine antimoderne Arierideologie – dies aber mit modernsten Mitteln. Es war bei allem Kult des »Bauerntums« hochgradig Technik-affin, es trieb die Motorisierung voran, startete die Fließbandproduktion von Konsumgütern sowie den Massentourismus – und gerade sein Menschheitsverbrechen organisierte es höchst modern, nämlich industriell und bürokratisch. Teils war der Kritiksturm gegen Zitelmanns revisionistischen Impetus berechtigt. Teils resultierte er aber auch bloß aus dessen Verstoß gegen das ahistorische Gebot, das Böse nie modern zu nennen.
Der Liberalismus hatte nun mit dieser grausigen Spielart der Moderne nur indirekt zu tun: Die Entfesselung der US-amerikanischen Finanzmärkte, die 1929 zum großen Crash führte, trug zum Sieg des Faschismus bei. Doch seine Geschichte funktioniert genau wie die seiner Verwandten: Versäumnisse und Untaten werden abgespalten, während man ihm Errungenschaften zuschreibt, die er nicht im Alleingang erwirkt hat oder ihnen sogar entgegenstand.
Ein akademisches Beispiel ist eine heute weit verbreitete Art, über die Nation zu reden. Der Bezug auf diese gilt als rückständig, borniert – also »illiberal«. Dabei ist die Idee und Inwerksetzung der Nation ein Kind des Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts; die deutsch-völkische Variante stellt eher ein Sondermodell dar. Heute aber – Blitzdings! – ist das vergessen. Mehr noch: Adepten des aktuellen Liberalismus geißeln die Nation als unechte Ordnung, als bloß erfunden, als »Konstrukt«. Ihr sei das Individuum als quasi authentischer, emanzipierter menschlicher Zustand entgegenzusetzen. Hierbei – Blitzdings! – ist freilich in Vergessenheit geraten, dass das angeblich vernunftbegabte, rationale, autonome »Individuum« wie alle historischen Ordnungen gleichfalls keine Grundsubstanz der Weltgeschichte ist, sondern eine soziale Hervorbringung: exakt diejenige nämlich, auf die das liberale Konzept der Nation aufsetzt.
Aber nehmen wir etwas Konkreteres: Herrschaft der Parlamente, allgemeine Wahlen, Bürgerrechte, was man so Demokratie nennt. Eine originäre Erfindung des Liberalismus? Aus der Nahsicht wird auch dieser Allgemeinplatz prekär. Denn erstens wurden diese Kämpfe im 19. Jahrhundert oft auch von Leuten geführt, die eher dem sozialistisch-kommunistischen Lager zuzurechnen sind. Das berühmteste deutsche »Organ der Demokratie« wurde von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Freiligrath editiert. Und verwirklicht wurde die parlamentarische Herrschaft von der damals noch sozialistischen Sozialdemokratie.
Die Liberalen hingegen haben weder in Preußen jemals nachdrücklich für eine Abschaffung jenes Dreiklassenwahlrechts gestritten, das für die meisten anderen deutschen Teilmonarchien das Vorbild abgab. Noch haben sie nach 1871 ernsthaft versucht, im Reichstag – dem ja die Krone das allgemeine Männerwahlrecht spendiert hatte –, die Vorherrschaft der gewählten gegenüber der ererbten Macht durchzusetzen.
Die Geschichte des deutschen Liberalismus in seinem klassischen Zeitalter – dem 19. Jahrhundert – lässt sich auf die Formel bringen, dass sich dieser, wenn immer es darauf ankam, spaltete und der Obrigkeit das Feld überließ: im »preußischen Verfassungskonflikt« so sehr wie etwas später bei Bismarcks Kampagnen gegen die politischen und bürgerlichen Rechte von Katholiken und Sozialisten. Doch wiederum: Blitzdings! Die geschichtlichen Liberalen, die all das an Demokratie nie bewirkten, was man »dem Liberalismus« retrospektiv zugutehält, sind vergessen.
Vielleicht ist Deutschland ein schlechtes Beispiel. Blicken wir in die USA: Heimat der Freiheit, ein Mann, eine Stimme! Tatsächlich wurde dort das Wahlrecht für alle weißen Männer zwar nicht – wie viele denken – mit der Unabhängigkeit, aber doch seit den 1820ern Staat für Staat durchgesetzt. Allerdings trieb gerade die Bewegung der Andrew-Jackson-Demokraten, in die diese Wahlrechtskämpfe mündeten, zugleich den schleichenden Kolonialgenozid maßgeblich voran. Zudem stritt sie nicht nur für die Beibehaltung der Sklaverei in den Südstaaten, sondern auch für deren Legalisierung in neuen westlichen Territorien.
Doch sind auch diese Bezüge zwischen Liberalismus, Kolonialismus und Rassismus heute wie weggeblitzt – nicht nur, was die historische Praxis der »Jacksonian Democracy« angeht, sondern auch hinsichtlich der Theorien von John Stuart Mill, John Locke, Immanuel Kant und anderen. Dass freiheitlich-demokratische Perspektiven bei liberalen Klassikern neben einer Art von Rassismus stehen, den es vor der »Aufklärung« zumindest so systematisch nicht gab, wird bis heute notorisch nicht ernst genommen, sondern gilt als merkwürdiger Widerspruch: Denn kaum etwas, ist man sich einig, sei so »illiberal« wie der Rassismus!
Wie aber funktioniert das Blitzdings? Wie kommt es, dass der Liberalismus stets schuld- und geschichtslos im Heute schwimmt, während sich Sozialismus und in der Tendenz auch Konservatismus vom Gestern distanzieren müssen, um aktuelle Anliegen vortragen zu dürfen?
Ein Teil der Antwort liegt in der Beschaffenheit des liberalen Arguments. Konservatismus verteidigt die wirtschaftliche Macht in einer Sprache der Bewahrung des rechtmäßig Gegebenen. Sozialismus vertritt die ökonomisch Machtlosen in einem Vokabular von Umsturz und Gerechtigkeit. Liberalismus indes verbindet scheinbar diese Perspektiven, indem er die Sache der wirtschaftlich Mächtigen in einer politischen Sprache der Freiheit ausdrückt.
So kann er ständig von »Revolutionen« sprechen, was sich dem Konservatismus verbietet und wovon der Sozialismus nur eine kennt. Daher ist die Spanne zwischen seinem linken und seinem rechten Flügel weiter als bei allen anderen Ideen – sodass er fast immer ein Angebot hat. Deswegen ist er so gut darin, seine Geschichte vergessen zu machen: Er behauptet, weder einen gegebenen Zustand zu verteidigen noch einen fernen anzustreben, sondern gibt sich als das Gegenteil von Zuständen: als Prozess des »Fortschritts« selbst, als ewige Utopie, nicht haftbar für das, was wirklich war oder ist.
Diese eigentümliche Verselbstständigung des Allgemeinen vom Konkreten – der Idee von der Geschichte – ist eine große Stärke. Sie erlaubt es dem Liberalismus, fast beliebige Elemente seiner Opponenten aufzunehmen, wenn das die Zeit erfordert. Der Schriftsteller Jean-Claude Rufin hat das 1994 zugespitzt: Von nichts lebe der Liberalismus so gut wie von seiner Bedrohung, über die er klage, seit es ihn gibt. In diesem Sinn bestünde die einzig existenzielle Gefährdung des Liberalismus im Mangel an Gegnern. Dann kann er sich nur selbst gefährden.
Und scheint es nicht wirklich so, dass in jüngeren Jahren seine Bindekraft schwindet, weil der wirtschaftliche Liberalismus den politischen bedroht, seit dieser nicht mehr zur Neutralisierung des Sozialismus gezwungen ist? Wenn dem so ist, liegt der Grund auf der Hand: Beim Dauereinsatz des Blitzdings hat der Liberalismus selbst zu lange ins Licht gestarrt. Nun verschwimmt nicht nur die Geschichte, sondern auch die Idee.
Das Ergebnis lässt sich in einem »Duden« besichtigen, dessen »Grundlagenwissen für Schule und Studium« die Bundeszentrale für Politische Bildung online verbreitet: Nach Adam Smith bestehe das ökonomische Argument des Liberalismus in der Annahme, eine »unsichtbare Hand« bewirke, dass Egoismus allen nutze. »Staatliche Eingriffe« hätten daher zu unterbleiben.
Das aber hat viel mehr mit Christian Lindner zu tun als mit Adam Smith: Der Stammvater der klassischen Ökonomie predigte weder rücksichtlosen Eigensinn noch lehnte er »Eingriffe« per se ab. Im Gegenteil wandte sich Smith wie alle liberalen Klassiker scharf gegen anstrengungsloses Einkommen. Gemeint waren nicht etwa Sozialleistungen, sondern Gewinne aus Rentenextraktion, etwa aus Grundbesitz oder Vermögen: Solche Geldquellen seien weitgehend wegzubesteuern – heute beträfe das Börsengeschäfte sowie den Immobiliensektor. Nun erzählen Sie das mal einem Lindner! Selbst heutige Sozialisten trauen sich ja kaum, diese Forderung der liberalen Klassiker mit Nachdruck zu vertreten. Wie der Liberalismus diese Ausgangspunkte pervertierte, lässt sich in des amerikanischen Ökonomen Michael Hudsons Buch »Der Sektor« nachlesen.
Es ist aus all diesen Gründen Unsinn, wenn heute selbst Linke zur Verteidigung der »liberalen Demokratie« blasen. Viel eher ginge es in diesem Sinne darum, die Demokratie vor dem real existierenden Liberalismus zu retten. Helfen könnte eine militante Aktion: dem Liberalismus das Blitzdings zu klauen.
Dann nämlich verlöre dieser nicht nur seinen verkleisternden ideologischen Nimbus, sondern zeigte auch Züge, die tatsächlich praktischen »Fortschritt« bedeuteten.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!