- Politik
- Unionsstreit über Asylpolitik
Merkel und Seehofer einigen sich - vorerst
Kanzlerin soll bis Ende über europäischen Lösung verhandeln, anschließend laut CDU-Kreisen »kein Automatismus« für Zurückweisung von Geflüchteten
Berlin. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Innenminister Horst Seehofer (CSU) haben sich auf das weitere Vorgehen in der Frage der Zurückweisung von Geflüchteten geeinigt. Das sagte Merkel am Montag in einer Sitzung des CDU-Bundesvorstands, wie die Nachrichtenagentur AFP von Teilnehmern erfuhr. Demnach soll Merkel bis Ende Juni Zeit bekommen, über eine europäische Lösung zu verhandeln.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ist demnach einverstanden damit, dass Merkel bis Ende des Monats versucht, im Streit über die Zurückweisung bestimmter Flüchtlinge an der deutschen Grenze eine europäische Lösung zu erarbeiten. Danach soll es aber »keinen Automatismus« geben, wie es aus CDU-Kreisen hieß. »Im Lichte des Erreichten wird über das weitere Vorgehen entschieden.«
Wie der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich am Montag über Twitter aus dem CSU-Vorstand berichtete, wird Seehofer für »Anfang Juli« die von ihm geplanten Zurückweisungen bestimmter Flüchtlinge an der deutschen Grenze vorbereiten. Damit kann Merkel versuchen, auf dem EU-Gipfel Ende Juni eine europäische Asylreform durchzusetzen und damit ein von Seehofer geplantes einseitiges deutsches Vorgehen zu verhindern.
Friedrich bestätigte Angaben aus CSU-Kreisen, wonach ab sofort an den deutschen Grenzen Asylbewerber zurückgewiesen werden, für die ein Einreise- oder Aufenthaltsverbot in Deutschland gilt.
Beim Streit über die Asylpolitik hatten die Führungsgremien beider Schwesterparteien in Berlin und München über den unionsinternen Konflikt beraten.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will schrittweise vorgehen: Als erstes will er diejenigen Ausländer an den Grenzen abweisen lassen, die mit einem Einreiseverbot belegt sind. Für den Rest sollten die Vorbereitungen getroffen werden - das solle wirksam werden, wenn keine europäischen Vereinbarungen zustande kämen. Das sagte Seehofer am Montag in einer CSU-Vorstandssitzung in München, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Teilnehmerkreisen erfuhr.
Lesen Sie auch: »Das wäre ein Verstoß gegen EU-Recht« – Rechtswissenschaftler Jürgen Bast im Interview über Horst Seehofers geplanten nationalen Alleingang in der Flüchtlingspolitik
Seehofer stellte den Kreisen zufolge in Aussicht, dass die neue bayerische Grenzpolizei auch eigenständig Grenzkontrollen durchführen darf - im Rahmen der Befugnisse, die auch die Bundespolizei hat. Ministerpräsident Markus Söder (CSU) kündigte demnach an, ab Dienstag werde es Gespräche zwischen Bund und Bayern über die Unterstützung an
der Grenze geben.
Seehofers »Masterplan« soll darüber hinaus weitere Punkte enthalten, die in der Großen Koalition auf Widerstand treffen könnten. Wie die »Augsburger Allgemeine« am Montag unter Berufung auf Informationen aus CSU-Kreisen berichtete, sieht der Plan auch vor, Geldzahlungen an Flüchtlinge künftig massiv einzuschränken und nahezu komplett auf Sachleistungen umzustellen.
Außerdem sei geplant, den Zeitraum, in dem Asylbewerber nur einen Grundbedarf erstattet bekommen, bevor sie Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe erhalten, von 15 auf 36 Monate zu verlängern. In beiden Punkten sei mit Widerspruch vom Koalitionspartner SPD zu rechnen.
»Wie Deutschland handelt, entscheidet darüber, ob Europa zusammen bleibt oder nicht«, sagte dagegen Regierungschefin Angela Merkel am Montag, wie die Nachrichtenagentur AFP von Teilnehmern der der CDU-Bundesvorstandssitzung erfuhr. Die Aussagen der Parteichefin seien mit großer Zustimmung aufgenommen worden.
Die Parteivorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel lehnt einen nationalen Alleingang in der Flüchtlingspolitik ab. Sie setzt darauf, eine Lösung unter dem Dach der Europäischen Union zu erreichen, und strebt bilaterale Abkommen mit Staaten wie Italien, Österreich oder Griechenland zur Zurückweisung von Flüchtlingen an.
Am Sonntagabend beriet sich Merkel bereits in einem engen CDU-Führungszirkel über das weitere Vorgehen. Ergebnisse des fast siebenstündigen Treffens wurden nicht bekannt.
Offenbar Aufrüstung von Frontex geplant
Die »Welt« berichtet unter Berufung auf hohe EU-Diplomaten, Merkel plane ein Sondertreffen mit Italien, Österreich und weiteren Staaten im Vorfeld des EU-Gipfels Ende Juni. Dabei sollten neue umfangreiche Maßnahmen im Kampf gegen illegale Zuwanderung beraten werden. Konkret werde es unter anderem darum gehen, das Mandat und damit die Aufgaben der EU-Grenzschutzbehörde Frontex deutlich zu erweitern und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten zu stärken.
Seehofer betonte derweil in der »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (Montag), es sei von entscheidender Bedeutung, »dass der EU-Gipfel Ende Juni endlich zu Beschlüssen kommt, die Deutschlands Lasten in der Migrationspolitik anerkennen und einen wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen und eine faire Verteilung der Menschen mit Bleiberecht ebenso gewährleisten wie eine schnelle Rückführung der Menschen ohne Bleiberecht«. Auch der CSU-Vizevorsitzende Manfred Weber zeigte sich in der Zeitung optimistisch: »Ich bin zuversichtlich, dass CDU und CSU einen gemeinsamen Weg finden werden.«
Innenstaatssekretär Günter Krings (CDU) warnte: »Sollte es bei dieser Frage, in der wir gar nicht weit auseinander liegen, zu einem Bruch zwischen CDU und CSU kommen, wäre das schlimmer als der Kreuther Trennungsbeschluss von vor 40 Jahren.« Damals sei man gemeinsam in der Opposition gewesen, sagte er der »Rheinischen Post« (Montag). »Einen Bundestag aber, in dem sich die CDU auf der Regierungsseite und die CSU auf der Oppositionsseite wiederfindet, mag sich niemand ernsthaft vorstellen.« Im November 1976 hatte die CSU-Landesgruppe im Bundestag beschlossen, die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU aufzukündigen. Dieser Beschluss wurde wenige Wochen später wieder zurückgenommen.
Die CSU hat für ihre unnachgiebige Haltung im Asylstreit mit der CDU nach einer Meinungsumfrage die Rückendeckung der großen Mehrheit der Bürger in Bayern. Dort befürworten fast 71 Prozent der Menschen einen Bruch der Großen Koalition im Bund, wenn sich die CSU nicht mit ihrer Forderung nach Abweisung von Flüchtlingen an der Grenzen durchsetzen sollte. Das ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey im Auftrag der »Augsburger Allgemeinen« (Montag) ergeben. Nur rund 24 Prozent sind demnach anderer Auffassung.
Auf Bundesebene scheint der Streit den Unionsparteien jedoch zu schaden: In dem am Montag veröffentlichten RTL/NTV-Trendbarometer fielen CDU und CSU Ende vergangener Woche um vier Prozentpunkte auf 30 Prozent - ihren bislang niedrigsten Wert seit der Bundestagswahl. Auch die SPD verlor zwei Prozentpunkte. Um jeweils zwei Prozentpunkte zulegen konnten dagegen die AfD und die Grünen.
Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans appellierte an die CSU, »keine vollendeten Tatsachen zu schaffen, sondern Vernunft walten zu lassen und die Tür zu einem gemeinsamen Unionskompromiss nicht vorschnell zuzuwerfen«. Der CDU-Politiker warnte in den Zeitungen der Funke Mediengruppe: »Die Zuspitzung des Streits ist für die Union als Ganzes existenzgefährdend.«
Hofreiter: Regierungskrise fatal für Deutschland und Europa
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner machte in der »Passauer Neuen Presse« (Montag) deutlich, dass seine Partei bei einem Zerbrechen der Großen Koalition nicht als neuer Partner zur Verfügung stehe: »Wir sind kein Notnagel. Ich wüsste auch nicht, was das für eine Koalition von wem mit wem werden könnte. Sollte die Regierung scheitern, müssten die Wählerinnen und Wähler bei Neuwahlen das Wort haben.«
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagte der »Rheinischen Post« (Montag): »An Spekulationen über Neuwahlen und Koalitionsoptionen will ich mich nicht beteiligen. Klar ist: Diese Regierungskrise ist fatal für Deutschland und Europa.« Ko-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte der »taz« (Montag): »Wir haben genug deutlich gemacht, dass wir bereit sind, zu regieren. Aber wir sind nicht der Notnagel. Es gibt gravierende Unterschiede zur SPD und auch zur CDU.«
Die CSU stelle derzeit alles in Frage, was in Europa in 60 Jahren aufgebaut worden sei, sagte Grünen-Chefin Annalena Baerbock am Montag im Inforadio vom rbb: »Dass die CSU jetzt das ganze Land in Geiselhaft für ihre eigenen Spielchen nehmen kann, das ist aus meiner Sicht brandgefährlich.« Dennoch glaubt Baerbock nicht an ein Ende der
Koalition am heutigen Tag. Seehofer werde aus ihrer Sicht eine Art »Zwischenspiel« anbieten: »Dass er vielleicht sagt, die Regelung, die kann irgendwie am 1. August in Kraft treten. Dazwischen liegt der Europäische Rat, und damit hätte Frau Merkel die Zeit, die sie auch bei der CDU erbeten hat.«
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil nannte den Streit zwischen CSU und CDU im rbb-Inforadio »verantwortungslos«. Seine Partei beobachte die Auseinandersetzung beim Koalitionspartner »einigermaßen fassungslos«. »Man kann nur hoffen, dass sich alle ihrer Verantwortung bewusst sind.« Die Sozialdemokraten appellieren an Kanzlerin Angela Merkel, gegen nationale Alleingänge vorzugehen. Die werde es mit der SPD nicht geben. Zudem sei der Masterplan Seehofers nicht in der Koalition abgestimmt. Um ein Zeichen zu setzen hat die SPD am Montag auf ihrer Parteizentrale in Berlin die Europa-Fahne gehisst. »Es sind entscheidende Tage für Europa«, erklärte SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil. »Die SPD steht für ein starkes und geeintes Europa.« Normalerweise weht über dem Brandt-Haus im Berliner Stadtteil Kreuzberg die Parteifahne. Agenturen/nd
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.