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Gestrandet am Gänsemarkt
Die Stimmung gegenüber polnischen Obdachlosen in Hamburg ist gekippt. Der Senat will sie loswerden
»Mach dir keine Sorgen, ich habe einen Platz zum Schlafen«, sagt Filip, den ich zufällig in der Hamburger S-Bahn getroffen habe. Filip ist ein Freund aus Kindheitstagen, wir sind in demselben Bremer Stadtteil aufgewachsen. Damals ähnelten sich die Schicksale vieler junger Polen in Deutschland. Unsere Familien sind Ende der 1980er gen Westen aufgebrochen, auf der Suche nach einem »besseren Leben«. Ich habe Filip über zwanzig Jahre nicht gesehen. An jenem verregneten Tag, als er im öffentlichen Nahverkehr eine Obdachlosenzeitung verkauft und selbstverfasste Gedichte zum Besten gibt, erkenne ich ihn erst auf den zweiten Blick. Mein Freund hat sich verändert. Sein Bart ist lang, seine Hände aufgequollen. Ansonsten ist es jedoch unzweifelhaft der »alte« Filip, mit dem gleichen klugen Blick.
Als er in der S-Bahn seine Stimme erhebt und um Almosen bittet, bin ich etwas irritiert, aber auch neugierig. Warum ist Filip obdachlos? Ich beschließe, an der nächsten Haltestelle mit ihm auszusteigen. Auch er erkennt mich nicht sofort. Filips Schwester ist vor einigen Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Seine Familie ist daran zerbrochen, er selbst begab sich auf eine rauschvolle Talfahrt quer durch Deutschland, die im letzten Jahr am Hamburger Gänsemarkt endete. »Wieso hast du kein Dach überm Kopf, ich kann dir doch helfen?«, frage ich. »Danke, aber ich bleibe lieber unabhängig. Außerdem würde kaum jemand einem Drogensüchtigen helfen«, entgegnet Filip. Der 38-Jährige hat sein Zelt in der Nähe des Jungfernstiegs aufgeschlagen. Besitzer eines chinesischen Restaurants erlauben es ihm, kostenlos auf ihrem Grundstück zu übernachten. »Ich habe hier meine Ruhe, zahle keine Miete«, erzählt er. Filip wolle keine Sozialhilfe beantragen, weil seine erbettelten »Einnahmen« die Leistungen vom Amt bei Weitem überböten. Doch er gibt sofort alles für Drogen aus. Zudem hat er Schulden, diese Tatsache befördert die Angst vor Behörden. Daher möchte Filip so leben, als wäre er nicht mehr da.
Seine Heroinsucht hat zweifellos Spuren hinterlassen. Sonst verhält er sich aber so, als hätten wir uns nur wenige Tage nicht gesehen. Seine Intelligenz, die wir damals schon alle bewundert haben, leistet seiner Krankheit erstaunlichen Widerstand. »Nicht jeder Junkie ist ein Vollpfosten«, meint Filip. Im Grunde dürfte er sich noch glücklich schätzen. Denn im Gegensatz zu den etwa 400 bis 600 anderen polnischen Obdachlosen in Hamburg spricht er fließend Deutsch. Und dies ist das Hauptproblem für jene erwachsenen polnischen EU-Bürger, die seit der Öffnung der Grenzen nach Deutschland strömen.
In Hamburg leben zwischen 2000 und 3000 Menschen auf der Straße. Rund die Hälfte der Wohnungslosen stammt aus Rumänien, Bulgarien und vor allem aus Polen. Sie suchen in Großstädten nach einer Zukunft, die ihnen in der osteuropäischen Provinz verwehrt blieb. In Deutschland werden sie aber zumeist bitter enttäuscht. »Diese Menschen denken, dass sie hier mit offenen Armen empfangen werden, aber das ist Unfug. Wer es in seiner Heimat nicht schafft, wird auch im Ausland nicht über die Runden kommen«, glaubt Andrzej Stasiewicz, Leiter der Hamburger Beratungsstelle Plata. Der 59-Jährige versucht, seinen wohnungslosen Landsleuten zu helfen und eine Rückführung in die Heimat einzuleiten.
Denn nicht nur Sprachbarrieren hindern die Ankömmlinge aus dem Osten an einer Integration auf dem Hamburger Arbeitsmarkt. Der rot-grüne Senat der Hansestadt versucht auch, den Zuzug zu stoppen und die Gestrandeten zur Rückkehr zu bewegen. »Arbeitsmigration birgt natürlich auch Chancen, aber nur, wenn man sie vorbereitet antritt und sich in einer stabilen Situation befindet«, sagt Stasiewicz. Der Soziologe meint, dass die aus der Heimat »mitgebrachten« Probleme sich in Deutschland oft verstärken. »Wenn die Migranten schon in Polen alkoholabhängig waren und keine Ausbildung vorweisen konnten, gehen sie erst recht in einem fremden Land unter. Obdachlose brauchen vor allem eine Therapie, weil es vornehmlich kranke Menschen sind«, versichert der aus Wrocław (Breslau) stammende Soziologe.
Psychische Krankheiten, Abhängigkeit und mangelnde Bildung ist das eine. Es gibt aber auch noch andere Gründe, die Polen in die Flucht schlagen. Viele entscheiden sich für eine Ausreise aus Angst vor der heimischen Justiz. Sie denken, sie würden im Ausland den Folgen ihrer Straftaten entgehen. »Häufig hauen Menschen nach einer Scheidung ab und hoffen, auf diese Weise der Unterhaltspflicht zu entkommen. Erstens geht das meistens schief, weil die polnischen und deutschen Gerichte inzwischen gut kooperieren, und zweitens sind viele Gerichtsurteile bereits verjährt, ohne dass die polnischen Obdachlosen es erfahren. Sie könnten längst wieder zu Hause sein, leben aber noch auf der Straße. Oder versterben. Ich habe es täglich mit Todesfällen zu tun«, erzählt Stasiewicz.
In der Mönckebergstraße treffe ich ehemalige Geschäftsleute, die in Polen eine eigene Firma hatten, jedoch hierzulande alles verloren haben. »Wenn man einmal in der Hölle der Obdachlosigkeit drin ist, kommt man nur schwer wieder heraus. Man findet Verbündete, die zwar nach außen hin einen konfrontativen Kurs fahren, aber untereinander oft solidarisch sind. Das gilt erst recht für nationale Minderheiten«, erklärt Stasiewicz.
Die EU-Bürger aus dem Osten werden in Hamburg zunehmend als Ärgernis empfunden - von Bürgern und Touristen, aber auch von etablierten Lokalpolitikern, die ein weiteres Erstarken der AfD fürchten. Die Stadt versucht also, Menschen wie Filip loszuwerden. Als Hebel dazu dienen die Vorschriften des Freizügigkeitsrechts: EU-Ausländer, die sich länger als drei Monate in Deutschland aufhalten, müssen nachweisen, dass sie eine feste Arbeit haben oder zumindest sich darum bemühen. Wer nicht arbeitet, wird aufgefordert, sich bei der Ausländerbehörde zu melden. Wer anschließend immer noch keine Stelle gefunden hat, wird zu einer »freiwilligen« Ausreise überredet. Viele Betroffene wissen nicht einmal, dass es sich bei dem ausgehändigten Vordruck um eine Vorladung handelt.
Wenn sie ausreisen müssen, kommen sie oft nach einigen Tagen wieder zurück. Das Recht dazu haben sie. Behördengänge meiden viele, meistens aus Unsicherheit und Desinformation. Unterstützung erhalten viele Betroffene nicht. Mit ihren Problemen werden sie alleingelassen. Bei den Jobcentern sind Obdachlose auch nicht gern gesehen. »Das deutsche System wird zunehmend brutaler. Es fordert von kranken Menschen, die bereits längst kapituliert haben, dass sie sofort eine Tätigkeit aufnehmen«, betont Stasiewicz. Tatsächlich setzt Hamburg, das lange den Ruf genossen hat, sich für Obdachlose einzusetzen, zuletzt auf eine härtere Gangart. Auf den Straßen werden ausländische Obdachlose immer häufiger kontrolliert.
Auch wenn diese Methoden sich offenbar rein statistisch auszahlen und bereits viele wohnungslose Osteuropäer ausgereist sind, so bleibt die Vorgehensweise der Hamburger Polizei nicht unumstritten. »Die systematische Überprüfung von Ausländern ohne akuten Anlass ist rechtlich nicht zulässig«, so Stasiewicz. Immer häufiger führt die angespannte Situation auf den Hamburger Straßen unter den Obdachlosen zu Konflikten. Zuweilen entsteht der Eindruck, dass es längst eine Zweiklassengesellschaft gibt, in der »gute« (deutsche) Obdachlose mit »bösen« (polnischen) Wohnungslosen um Schlaf- und Bettelplätze konkurrieren. Meistens bleibt es nur bei verbalem Schlagabtausch oder kleineren Raufereien. Doch es kann auch aggressiver zugehen.
Im November 2017 erlag eine wohnungslose Polin in Delmenhorst nach schweren Misshandlungen ihren Verletzungen. In Bochum kam ein 55-jähriger Pole nur knapp mit dem Leben davon, nachdem ein Angreifer ihn mit einem Ziegelstein am Kopf getroffen hatte. Im Herbst verurteilte das Hamburger Landgericht einen obdachlosen Deutschen zu sechs Jahren Gefängnis, weil er das Lager osteuropäischer Obdachloser angezündet hatte. Der Täter missgönnte den Opfern einen wetterbeständigen Schlafplatz.
Indessen bleibt Filip von den Antagonismen zwischen deutschen und polnischen Obdachlosen völlig unbeeindruckt. »Ich kann gar nicht mehr einschätzen, ob ich Deutscher oder Pole bin. Eigentlich ist es mir völlig gleichgültig«, sagt mein Freund. Ich spreche nicht laut aus, dass ich ihm das nicht abnehme. Nach unserem Abschied brauche ich erst eine Weile, um zu mir zu kommen.
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