- Politik
- Wahlen in der Türkei
Unerwartet deutlicher Sieg
Erdogan wird auf Anhieb zum Präsidenten gewählt. Das neue Präsidialsystem tritt nun in Kraft
Trotz eines vergleichsweise lustlosen Wahlkampfes von Recep Tayyip Erdoğan und trotz aller Euphorie um den Oppositionskandidaten Muharrem İnce hat Erdoğan am Ende doch gewonnen. Weder der rhetorisch gewandte İnce noch die wieder zweistellige Inflation und die Kursstürze der heimischen Währung haben den Erdoğan-Block groß beeinflusst. Mit rund 52 Prozent erzielte er fast genau das gleiche Ergebnis wie bei seiner ersten Wahl zum Präsidenten im Jahr 2014. Ungeachtet der ernstzunehmenden Vorwürfe wegen Wahlbetrugs und Einschüchterung der Wähler - insbesondere im kurdischen Südosten des Landes - erscheint das Bild der Wahlen, wenn man es nach Regionen betrachtet, einigermaßen stimmig. Erdoğan feierte in seinem ersten Tweet nach der Wahl einen »Sieg der Demokratie«. Bei einer nächtlichen Balkonrede vor Anhängern wurde es dann noch pathetischer: »Wir haben uns vor keiner Macht gebeugt, wir verbeugen uns nur vor Allah!«
Das soll sich so anhören, als hätte Erdoğan gegen einen übermächtigen Feind gewonnen. Das weit verbreitete Narrativ, dessen sich der Präsident hier bedient lautet: Ausländische Mächte versuchten beständig, die Türkei klein zu halten.
Tatsächlich ist es eher so, dass die Opposition gegen eine Übermacht - die des Erdoğan-Regimes - kämpfen musste. Der drittplatzierte Kandidat der Opposition, der kurdische Anwalt Selahattin Demirtaş, musste seinen Wahlkampf aus der Untersuchungshaft führen. Gerade mal zehn Minuten durfte er im staatlichen Fernsehen sprechen. Erdoğans Reden liefen dagegen 180 Stunden. Und es ist nicht nur das staatliche Fernsehen, das Erdoğan bevorzugt. Mittlerweile sind alle großen Medien im Lande in Besitz einer Handvoll von Geschäftsleuten, die Erdoğan unterstützen. Kurz vor der Wahl musste der letzte noch halbwegs unabhängige große Medienunternehmer, Aydin Doğan, aufgeben. Ihm droht wegen angeblicher Steuervergehen eine langjährige Haftstrafe. Das mag seine Bereitschaft zu verkaufen erhöht haben. Neben der Medienkonzentration, wegen der während des Wahlkampfes die Opposition extrem benachteiligt war, wurde der Ausnahmezustand kurz vor Bekanntgabe des Wahltermins im April verlängert. Die Wahlen fanden also unter dem Diktat von Notstandsgesetzen statt.
Während Erdoğan mit seinem Ergebnis als Präsident zufrieden sein kann, dürfte er über das Ergebnis der Parlamentswahl weniger erfreut sein. Seine AKP verlor sieben Prozent. Erstmals muss Erdoğan eine Koalition eingehen. Hierfür steht Devlet Bahçeli mit seiner ultranationalistischen MHP bereit. Trotz der Abspaltung eines Teiles der MHP unter Führung der früheren Innenministerin Meral Akşener schaffte es die MHP überraschenderweise noch auf elf Prozent. Dies hatte nicht einmal die MHP selbst angenommen - und daher ein Wahlbündnis mit der AKP geschlossen, damit diese die MHP im Huckepack-Prinzip über die Zehn-Prozent-Hürde mit ins Parlament nimmt. Nach dem im Frühjahr erlassenen neuen Wahlgesetz waren solche Bündnisse erstmalig möglich. Das jetzige Ergebnis für die MHP bedeutet allerdings, dass die Partei für zukünftige Wahlen hoffen kann, wieder die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden, auch ohne sein Wahlbündnis mit der AKP zu erneuern. Das macht sie zu einem schwierigen Koalitionspartner, zumal Parteichef Bahçeli allen Grund hat, sich zu profilieren. Denn mit Meral Akşeners IYI-Parti und Erdoğans AKP gibt es nun zwei große Parteien, die mit der MHP um das gleiche nationalistisch-religiöse Wählerpotenzial ringen.
Eine weitere schlechte Nachricht für Erdoğan ist, dass es auch die Linkspartei HDP trotz heftiger Repressionen wieder geschafft hat, die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden und ins Parlament einzuziehen. Die HDP wird die drittstärkste Fraktion stellen. Das war sie nach den Wahlen 2015 ebenfalls, ehe viele ihrer Abgeordneten ins Gefängnis mussten.
Während die HDP ihren Teilerfolg feierte, herrscht bei der Opposition und ihr nahestehenden Intellektuellen Entsetzen, nicht nur wegen des unerwartet deutlichen Sieges von Erdoğan im ersten Wahlgang, sondern auch, weil nun das neue Präsidialsystem in Kraft tritt, das dem Präsidenten nahezu alle Macht verleiht. Er wird Präsident, Ministerpräsident und AKP-Parteichef in einer Person sein. Die Minister sind nur von ihm abhängig. Er hat den meisten Einfluss auf die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtes und des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte, der für die Besetzung von Richterstellen und Disziplinarverfahren in der Justiz zuständig ist. Als Parteichef kann er bestimmen, wer auf die Wahllisten der AKP kommt. Die Rektoren der Hochschulen ernennt er ohnehin.
»Die Demokratie hat die Wahl verloren, der politische Islam hat sie gewonnen«, meinte der oppositionelle Journalist Aydın Engin in einer ersten Reaktion Sonntagnacht. Die Re-Islamisierung von Staat und Gesellschaft, insbesondere im Erziehungsbereich werde nun von Erdoğan weiter vorangetrieben werden. Sein Kollege Tayfun Atay hob hervor, dass die Zerrissenheit des Landes fortdauere. Im kurdischen Diyarbakır oder im westlich-laizistisch orientierten Izmir wären ganz andere Parlamente gewählt worden als im türkischen Durchschnitt. Die politischen Akteure hätten fast alle in dieser oder jener Weise etwas gewonnen, das Land habe aber bei der Wahl verloren. Feiernde Erdoğan-Fans sehen das natürlich anders. Was kümmert sie schon, dass das, was Erdoğan »unsere heilige Nation« nennt, nur eine hauchdünne Mehrheit ist, dem ein politisch marginalisierter Rest gegenübersteht.
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