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»Die CSU-Strategen spielen mit dem Schicksal Deutschlands«
Ex-SPD-Chef: Würde die Union sich trennen, würde die CDU sofort in Bayern antreten
Berlin. Volle Hörsäle statt roter Teppich. Der frühere SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel war bis vor einigen Monaten einer der beliebtesten Politiker Deutschlands, dann wollte die neue SPD-Spitze den streitbaren Genossen nicht mehr im Kabinett haben.
Nun versucht er Studenten ein Bild davon zu geben, wie fragil die Weltlage ist, Anfang der Woche etwa in Würzburg. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur zeigt er sich erschrocken über das Vabanquespiel der CSU und sieht auch bei der SPD Realitätsprobleme.
Herr Gabriel, steht die große Koalition vor dem Aus?
Vor einer Woche hätte ich noch gesagt, das pendelt sich ein. Aber als ich zuletzt die Interviews gelesen habe, dachte ich: Da ist ja keiner dabei, der mal eine Leiter an den Baum stellt, damit man wieder aus den Baumwipfeln runter klettern kann. Im Gegenteil: Bis in die Astspitzen klettert man weiter hoch. Die CSU handelt einerseits machtvergessen, weil sie vergisst, wie wichtig Deutschland für die europäische Einigung ist. Und sie ist zugleich, was Bayern betrifft, machtversessen. Ausgerechnet ich als Sozi sage: Ich kann nur hoffen, dass Angela Merkel Kanzlerin bleibt.
Warum schmeißen Sie sich für die Kanzlerin in die Bresche?
Weil sie das deutsche Gewicht in Europa, aber auch das europäische Gewicht für Deutschland spürt. Das fehlt scheinbar den meisten anderen. Sie hat ein Gefühl für die Gewichte in der Welt. Das ist der CSU offenbar völlig verloren gegangen. Es hat sich bei der CSU etwas mächtig angestaut, die Halsschlagader ist immer dicker geworden. Das scheint sich jetzt unkontrolliert Bahn zu brechen. »Bavaria first« lautet der Slogan der CSU. Das ist hochriskant, und die CSU wird nicht dafür belohnt, wenn sie diese Bundesregierung zerstört und Deutschland und Europa ins Chaos stürzt.
Von dem deutschen Stabilitätsanker kann keine Rede mehr sein…
Die Große Koalition ist zwar nicht sehr beliebt, aber was die Bürger bislang immer geschätzt haben ist, dass sie für Stabilität gesorgt hat. Es verunsichert die Bürger enorm, dass selbst das nicht mehr gilt. Stattdessen legen wir die Lunte an die europäische Einheit.
Die SPD hat sich vor über 100 Jahren wegen der Kriegskredite gespalten, folgt nun die Union wegen des Flüchtlingskonflikts?
Man fragt sich, sind die völlig wahnsinnig? Bisher habe ich nur die politische Linke in Deutschland für so rechthaberisch gehalten, dass sie sich lieber spaltet als regiert. Aber scheinbar ist der Irrsinn auch in der Union angekommen. Aber ich halte es noch immer nicht für so wahrscheinlich. Würde man sich trennen, würde die CDU sofort in Bayern antreten, und die CSU hätte ihren Nimbus als bayerische Volkspartei verloren. Das letzte Mal, dass so etwas diskutiert worden ist, war 1976 in Wildbad Kreuth. Aber Franz-Josef Strauß wusste, dass die CSU dann zu einer Regionalpartei wird. Das Beispiel der Sozialdemokratie zeigt - wenn man sich häutet, wird man nicht stärker.
Wer hat denn nun recht?
Das Verrückte ist, beide haben recht. Seehofer hat recht, dass wir wieder mehr Kontrolle über die deutschen Grenzen brauchen. Und die Merkel hat recht, dass das nicht geht ohne europäische Absprachen. Sonst haben sie vagabundierende Flüchtlingsströme innerhalb europäischer Binnengrenzen. Man fragt sich wirklich, wieso beide keinen gemeinsamen Weg finden.
Es geht um ein paar tausend Fälle im Jahr von bereits in anderen EU-Staaten registrierten Asylbewerbern, die Seehofer nun an der Grenze abweisen lassen will. Ist der Konflikt nicht lösbar?
Die Migrations- und Flüchtlingsfrage ist ein Jahrhundertthema. Dabei sind die Zahlen zuletzt deutlich zurückgegangen, aber Krieg, Bürgerkrieg und bittere Armut bleiben ja leider als Fluchtgründe. Auch die höchsten Zäune werden die Menschen nicht aufhalten, wenn das Leben zuhause unerträglich ist. Es wird sicher nicht die eine Lösung geben. In einer so schwierigen Lage, wo es wirklich darum geht, die Europäische Union zusammenzuhalten, meint die CSU, die Regierung in Deutschland erpressen zu müssen, das ist ein unfassbarer Vorgang.
Was ist Ihrer Meinung nach das treibende Motiv: Die Angst vor der AfD oder eine »Merkel muss weg«-Stimmung?
Die CSU-Strategen spielen mit dem Schicksal Deutschlands und Europas, in der Hoffnung, dass sie bei einer Landtagswahl die AfD klein halten, wenn man selbst wie so eine Art Bonsai-AfD erscheint. Das ist ein Spiel mit dem Feuer. Und es geht wohl um einen Rachefeldzug gegen Angela Merkel, es geht um die Geschichtsbücher: Hat Seehofer Recht gehabt oder Merkel. Und es geht um ein »take back control« über CDU und CSU und nicht über die Sicherheit an den deutschen Grenzen. Es gibt viele in der Union, die den liberal-konservativen Kurs von Angela Merkel seit langem kritisch sehen, seit vielen Jahren, das fing mit der Wende in der Atompolitik an, die Flüchtlingsaufnahme von über einer Million Menschen hat bei denen das Fass zum Überlaufen gebracht.
Die SPD ist hier doch selbst tief gespalten, beim Thema Flüchtlinge reichen die Positionen von »Refugees welcome« bis Abschottung.
Ich würde nicht sagen, wir haben alles richtig gemacht in der Flüchtlingsfrage. Auch wir Sozialdemokraten müssen zu einem realistischen Blick kommen. Wenn Andrea Nahles eine Binsenweisheit sagt wie »Wir können nicht alle aufnehmen«, dann gibt es fast ein Ausschlussverfahren gegen sie. Das zeigt, wie weit manche auch bei uns von der Realität weg sind.
Was ist schiefgelaufen im berühmten Flüchtlingsseptember 2015?
Zur Wahrheit gehört, dass wir das 2015 im Überschwang und aus einer humanitären Geste heraus gemacht haben, ohne uns mit unseren europäischen Nachbarn abzustimmen. Ich habe von Anfang davor gewarnt, naiv zu sein und schon im September 2015 für punktuelle Grenzkontrollen geworben, damit nicht weiter jeden Tag 5000 Flüchtlinge in das Land kommen. Aber gerade in der SPD wollte das niemand hören. Allein Nordrhein-Westfalen hat mit rund 400.000 Menschen mehr Flüchtlinge aufgenommen als Italien. Aber umgerechnet auf die Einwohnerzahl kommt nur ein Flüchtling auf 80 Deutsche. Von »Überfremdung« kann man wirklich nicht reden. Die Frage ist doch vielmehr, ob dieser eine Flüchtling auf 80 Deutsche in der Mitte der Gesellschaft steht oder an den Rand gedrückt wird.
Wie lautet denn ihr Masterplan für eine europäische Lösung?
Wir brauchen in Europa eine Koalition der Willigen mit unterschiedlichen Instrumenten: Finanzielle Hilfen für diejenigen, die Flüchtlinge aufnehmen, eine Einigung, wer hat welche Fälle zu bearbeiten. Wer nimmt wie viele auf unter den Willigen? Man muss, wie Frankreichs Präsident (Emmanuel) Macron das versucht, stärker beim Staatsaufbau zum Beispiel in Libyen helfen, um dann diese fürchterlichen Sklavenhändler-Lager aufzulösen, dazu wird es militärische Gewalt brauchen, um dann unter dem Dach des UN-Flüchtlingswerks ähnliches aufzubauen, wie wir es mit der Türkei gemacht haben. Einen der klügsten Vorschläge hat übrigens EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani mit seinem Vorschlag für ein Milliardenprogramm zur Schließung der Mittelmeerroute gemacht. Das wird eine Mischung sein müssen, auch Staatsgründungen im Norden Afrikas, Errichtung von Flüchtlingszentren an der Küste Nordafrikas, natürlich mehr Grenzschutz in Europa.
Oft hört man, für Flüchtlinge ist Geld da, nicht für die Sanierung der Schulen. Wie soll im Inland die Gesellschaft befriedet werden?
Ich bleibe dabei, dass die Idee eines großen Solidaritätspakts die Gesellschaft wieder zusammenführen würde. Wir haben eine doppelte Integrationsaufgabe: Für die, die kommen und für die, die da sind. Es kann nicht sein, dass jemand, der 40 Jahre gearbeitet hat, unter 1000 Euro Rente bekommt. Am Ende muss so jemand eine Mindestrente bekommen, die meiner Meinung nach über 1000 Euro pro Monat liegen muss, wenn 40 Jahre und länger in Vollzeit gearbeitet wurde. Wir sind bisher nicht dazu in der Lage, dass junge Familien preiswerten und bezahlbaren Wohnraum finden. Und wir dürfen kleine Orte, die Heimat, nicht verkommen lassen. dpa/nd
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