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Es ist ein Muss, die Menschen zu retten

Erik Marquardt im Interview über die Verantwortung Europas für die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer und das Unwissen eines Markus Söders

  • Katja Herzberg
  • Lesedauer: 9 Min.

Der deutsche Kapitän der »Lifeline« musste an diesem Montag in Valletta vor Gericht erscheinen. Die maltesischen Behörden gehen ihn und die zivilen Helfer der Organisation Mission Lifeline vor, nachdem sie nach tagelangem Warten auf dem Mittelmeer in Malta anlegen durften. Die »Lifeline« ist nicht das erste Schiff ziviler Helfer, das mit Kriminalisierung konfrontiert ist. Im vergangenen Sommer wurde die »Iuventa« der Nichtregierungsorganisation (NGO) »Jugend rettet« festgesetzt, auch die »Aquarius« wurde von der italienischen Regierung abgewiesen und konnte erst nach tagelanger Odyssee in Valencia anlegen. Ist hier eine neue Strategie der EU-Staaten im Umgang mit zivilen Helfern zu erkennen?

Es ist zumindest so, dass die Behörden über Twitter und Pressemitteilungen öffentlich versuchen, Stimmung zu machen gegen Seenotrettungs-NGOs. Dabei dürfen wir in dieser sehr konfusen Nachrichtenlage nicht vergessen, dass niemand ernsthaft bezweifeln kann, dass die Menschen, die dort auf dem Meer gerettet wurden, in Lebensgefahr waren und ihnen Schutz zusteht nach der Europäischen Menschenrechtskonvention und auch nach dem Seerecht. Einigen in Europa scheint es derzeit aber wichtiger zu sein, den Rechtsradikalen in ihrer Rhetorik und Politik hinterherzulaufen, statt sich wieder auf die Werte der Europäischen Union zu besinnen und sie auch umzusetzen. Der eigentliche Skandal ist, dass gegen die Retter stärker vorgegangen wird als gegen das Sterben.

Erik Marquardt
Erik Marquardt ist Mitglied im Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen, Fotograf und engagiert sich seit Jahren als Seenotretter auf dem Mittelmeer. Zuletzt war er auf dem Schiff "Sea-Watch 3" der Nichtregierungsorganisation Sea-Watch e.V. im Einsatz. Derzeit untersützt er zudem Mission Lifeline, deren Schiff "Lifeline" fast eine Woche lang mit 230 Geflüchteten an Bord auf dem Mittelmeer ausharren musste. 

Sie waren selbst in den vergangenen Wochen für Sea-Watch und Sea-Eye an Rettungseinsätzen beteiligt. Wie nehmen die Helfer auf See diese Stimmung wahr?

Ich habe mitbekommen, wie Markus Söder von »Asyltourismus« twittert, während ich auf dem Wasser erlebe, dass dort Menschen sterben, weil es einfach nicht genug Rettungskapazitäten gibt. Ich glaube, wenn Markus Söder sich einmal anschauen würde, wie Menschen in Libyen behandelt werden – wenn er vielleicht mal dabei ist, wenn ein junger Mann gefoltert wird, während er seine Mutter anrufen muss, ihr mehrere tausend Dollar abgepresst werden und sie dafür ihr Haus in Sudan verkaufen muss, in dem sie mit ihrer zehnköpfigen Familie lebt –, oder wenn er mal dabei ist, wenn Kinder auf dem Mittelmeer sterben – dann würde es ihm schwerer fallen, von »Asyltourismus« zu reden.

Sie glauben, dass jemand wie Markus Söder daran Interesse hätte?

Ich glaube, dass Leute wie Markus Söder verstehen müssen, dass Politik nur anständig ist, wenn man sich nicht um das nächste Landtagswahlergebnis oder die Beeinflussung irgendwelcher öffentlicher Stimmungen zugunsten der eigenen Ideologie kümmert, sondern wenn man sich klar macht, dass es viel Not auf der Welt gibt. Dass wir teilweise Schuld an dieser Not mittragen und dass wir alles dafür tun sollten, dass diese Menschen im Rahmen unserer Möglichkeiten Hilfe bekommen. Und ich glaube, wir schöpfen unsere Möglichkeiten nicht nur nicht aus, sondern wir vergessen bei diesem ganzen Gequatsche um die Schließung der Mittelmeerroute, dass wir überhaupt Möglichkeiten haben.

Die Staaten ziehen sich aus der Verantwortung, zivile Rettungsorganisationen versuchen zu verhindern, dass noch mehr Leute sterben, und am Ende muss man in der Presse lesen, dass diese Leute, die sich ehrenamtlich engagieren, viel Geld sammeln, um diese Seenotrettungsorganisationen zu betreiben und dann wirklich Menschen aus Seenot retten, dafür verantwortlich sein sollen, dass die Menschen dort sterben. Das ist wirklich absurd. Denn die Seenotrettungsorganisationen haben sich ja erst gegründet, nachdem tausende Menschen gestorben sind.

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Befürchten Sie, dass nun, da die Arbeit der zivilen Helfer behindert wird, noch mehr Menschen im Meer sterben werden?

Dass mehr Menschen sterben werden ist offensichtlich, es gab bereits in den letzten Tagen wieder mehrere Bootsunglücke mit Todesopfern. Am Sonntag sind wieder 63 Menschen gestorben, während wir im Hafen festgehalten wurden. Man darf auch nicht vergessen, dass die Seenotrettungs-NGOs viele Leute retten, aber dass die Mehrzahl in den letzten Jahren von Frachtschiffen, den Küstenwachen und vom Militär gerettet wurden. Obwohl sie genau dasselbe machen wie die NGOs, wirft ihnen niemand vor, Taxifahrten zu organisieren. Das habe ich zumindest noch nicht gehört vom italienischen Innenminister Matteo Salvini. Ich finde auch, wir müssen uns klar machen, über welche Zahlen wir reden. In diesem Jahr sind bisher knapp 16.500 Menschen in Italien angekommen, das ist ungefähr eine Person pro 45.000 Europäer*innen. Insgesamt sind in den ersten sechs Monaten 50.000 Menschen nach Europa über das Wasser geflohen. Wenn man diese auf alle EU-Staaten verteilen würde und sich bewusst wäre, dass die Binnenmigration in der EU deutlich höher ist, dann kann man die ganze Debatte einmal runterkochen. Wenn man die Presse liest, entsteht teilweise der Eindruck, dass es um Hunderttausende Geflüchtete gehen würde – das ist einfach falsch.

Zeigt die Art der Debatte, dass der Rechtspopulismus voll angekommen ist in der europäischen Politik und im Denken der Menschen?

Ich denke, dass da zum Einen viel Unwissen herrscht, weil die Menschen, auch Regierungschefs, sich leider nicht mit der Situation auf dem Mittelmeer oder in Libyen beschäftigen. Deswegen haben wir Horst Seehofer und Matteo Salvini auch zu uns eingeladen. Teilweise will man es aber auch nicht besser wissen. Beim italienischen Innenminister denke ich zum Beispiel, dass er zumindest den Zugriff auf Informationen hat und einfach Schuldige sucht – dafür, dass er keine Antworten hat und keine europäische Lösung durchsetzen kann. Wenn sich die Europäische Union nun dafür entscheidet, die EU-Außengrenzen immer weiter weg von Europa zu verschieben und dafür mit irgendwelchen Diktatoren zu paktieren, die weder die Menschenrechte noch das Völkerrecht achten, basiert diese Politik ausschließlich auf innenpolitischen Erwägungen. Man denkt, dass man den Rechtspopulismus in Europa stoppen kann, indem man ihn kopiert, indem man den Leuten in Europa vorgaukelt, dass es wenig Not auf der Welt gibt, und entzieht sich dadurch auch der Verantwortung, die Werte der Europäischen Union zu vertreten.

Welche Rolle spielt die Bundesregierung in dieser Debatte?

Das Auswärtige Amt spricht selbst von »KZ-ähnlichen Zuständen« in libyschen Flüchtlingslagern. Da frage ich mich, wann die Bundesregierung denn bereit ist, nicht nur die Küstenwache in Libyen zu finanzieren, sondern dafür zu sorgen, dass diese Zustände sich bessern – und solange sie nicht gebessert sind, die Leute nicht in diesen Lagern festgehalten, gefoltert und getötet werden. Besonders Deutschland sollte die Verantwortung dafür übernehmen, dass man solche Zustände auf der Welt nicht einfach akzeptiert, sondern versucht Lösungen zu finden.

Sehen Sie irgendwelche Ansätze in diese Richtung?

Wenn wir über das Jahr 2018 reden, dann kann ich mir nicht vorstellen, dass es für Deutschland nicht möglich ist, zumindest den Anteil der Menschen zu übernehmen, der dem Land proportional zusteht. Wenn also in sechs Monaten 16.500 Menschen in Italien angekommen sind – etwa 3000 pro Monat – und man diese auf die EU-Staaten verteilt, entfielen auf Deutschland etwa 600 Personen pro Monat. Das ist ungefähr eine Person pro Bundesland pro Tag. Daran kann es doch nun wirklich nicht scheitern. Unabhängig davon ist es ein Muss, alles dafür zu tun, Menschen aus Lebensgefahr zu retten – ganz egal, ob wir gut oder schlecht finden, warum sie dort auf dem Mittelmeer sind. Alles andere ist unterlassene Hilfeleistung. Wir können doch nicht sagen, dass es uns lieber ist, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken, als sie nach Europa kommen zu lassen. Das kommt der Verhängung der Todesstrafe für Migration gleich.

Auf dem EU-Gipfel in der vergangenen Woche haben die Staats- und Regierungschefs verschiedene Maßnahmen beschlossen. Was fehlt? Was fordern Sie von der EU?

Es fehlt weiter die solidarische Aufmahme und Verteilung der Geflüchteten in der EU. Es handelt sich um eine überschaubare Anzahl von Menschen. Man muss auch dafür sorgen, dass die Rettungskapazitäten auf dem Mittelmeer ausgebaut und die NGOs nicht in ihrer Arbeit behindert werden. Die NGOs sind dort nur, weil die Staaten sich immer weiter aus der Verantwortung gezogen haben und deswegen tausende Menschen im Mittelmeer ertrunken sind. Wir brauchen also eine staatliche Seenotrettungsorganisation. Und man muss natürlich auch in Ländern wie Libyen die Lage verbessern, statt unter dem Vorwand der Entwicklungszusammenarbeit die Abschottung voranzutreiben und eine kriminelle Miliz zu unterstützen. Solange es keine europäische Lösung gibt, müssen einzelne Staaten Verantwortung übernehmen.

Sie sprechen von überschaubaren Zahlen von Menschen, die aufzunehmen seien. Ein paar Städte in Europa scheinen das verstanden zu haben und boten in den letzten Tagen an, Geflüchtete von der »Aquarius« oder »Lifeline« aufzunehmen. Am Wochenende erklärte Barcelonas Bürgermeisterin Ada Colau die »Open Arms« mit 60 Geflüchteten an Bord in ihrem Hafen für willkommen. Können Politiker wie sie Druck auf die Regierungen ihrer Länder aufbauen?

Wir beobachten, dass sich Staaten mehr und mehr der humanitären Verantwortung entziehen. Man will offenbar nicht, dass die eigenen immer hochgehaltenen Menschenrechte auf der ganzen Welt gelten, obwohl das der Sinn dieser Rechte wäre. Das kann man nicht entschuldigen. Aber man kann natürlich honorieren, dass bestimmte Kommunen sich jetzt bewusst darüber sind, dass irgendjemand Verantwortung übernehmen muss. Es bleibt aber dabei, dass für die unterlassene Hilfeleistung der Staaten und die Verhinderung unserer Arbeit auch Personen zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Wir sehen jedoch aktuell, dass vor allem der Druck auf die zivilen Helfer steigt. Zum Abschluss der jüngsten Sea-Watch-Mission Mitte Juni schrieb die Crew, zu der Sie gehörten: »Am Ende werden wir gewinnen.« Was gibt Ihnen die Kraft, daran zu glauben?

Wir wissen, dass uns einige Steine in den Weg gelegt werden. Aber das wird nicht dazu führen, dass wir die zivile Seenotrettung einstellen. Wir sind fest davon überzeugt, dass es wichtig ist, Menschen in Not nicht einfach ertrinken zu lassen. Und dafür übernehmen wir weiter Verantwortung im Rahmen der Möglichkeiten. Es macht wütend zu wissen, dass hunderte Menschen im Mittelmeer ertrinken, die man retten könnte. Das sollte aber nicht zu einem Ohnmachtsgefühl führen, sondern ist uns Ansporn, ganz praktisch klar zu machen, dass es immer noch Leute gibt, die die Menschenwürde achten.

Dabei geht es nicht nur um Seenotrettung, sondern auch darum, ob Europa und die europäischen Staatschefs eigentlich noch einen Funken Anstand haben, wenn sie Menschen einfach im Mittelmeer ertrinken lassen. Wir nehmen das nicht hin und kämpfen weiter. Das erfordert natürlich auch, dass Menschen, die das so sehen wie wir, jetzt aufstehen und aufbegehren. Das ist ja keine Verantwortung, die ein paar Freiwillige auf dem Mittelmeer haben, die haben alle Menschen. Ich bin lange davon ausgegangen, dass am Ende der Geschichte alles gut wird. Im Moment bin ich mir nicht sicher, ob es einen solchen Automatismus gibt. Ich glaube, man muss jetzt hart dafür arbeiten, dass wir nicht in dunkle Zeiten zurückfallen.

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