Eins, zwei - viele neue Lager

Der Europäische Rat verständigt sich auf eine weitreichende Abschottung der EU

Im Morgengrauen, um kurz vor fünf Uhr, verkündeten die Europäischen Staats- und Regierungschefs ihre Vereinbarungen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wirkte erleichtert: »Wir haben, wie Sie ja an der Uhrzeit merken können, eine sehr intensive Debatte gehabt«, sagte sie vor der Presse in Brüssel. Mit den Ergebnissen des Gipfels können offenbar auch jene Partner Merkels gut leben, mit denen sie zuletzt noch über Kreuz lag. Giuseppe Conte etwa, der neue italienische Regierungschef, hatte noch im Vorfeld des Gipfels gedroht, mögliche Beschlüsse zu blockieren, falls Italien als eines der Hauptankunftsländer von Flüchtlingen nicht von anderen Staaten unterstützt werde. Am Freitagmorgen verkündete Conte dann froh: »Bei diesem europäischen Rat wird ein verantwortungsvolleres und solidarischeres Europa geboren. Italien ist nicht mehr allein.« Auch der französische Präsident Emmanuel Macron sieht in dem Beschluss eine »europäische Lösung«. Selbst der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der sich mit den migrationsfeindlichen osteuropäischen Staaten verbunden fühlt, zeigte sich zufrieden, »dass es jetzt endlich einen Fokus auf die Außengrenzen gibt«.

Doch was nach der langen Nacht von den Staats- und Regierungschefs euphorisch als Durchbruch erklärt wird, ist bei genauerer Betrachtung keiner. Es ist vielmehr das, was unter den - in der Asylpolitik heillos zerstrittenen - Mitgliedstaaten an Einigung möglich war. Im Kern hat der Europäische Rat den Entschluss gefasst, die EU besser vor Migration abzuschotten und die Bewegungsfreiheit von Schutzbedürftigen weiter einzuschränken.

Im Vorfeld des Gipfels hatte die Kanzlerin noch versucht, die Erwartungen zu dämpfen: »Das gemeinsame Asylsystem werden wir auf dem Rat nicht verabschieden können«, sagte sie am Donnerstag im Bundestag. Es sind denn auch eher Tippelschritte, auf die sich die Mitgliedstaaten geeinigt haben. Die Türkei bekommt etwa eine weitere Tranche über drei Milliarden Euro ausgezahlt, damit das Land im Gegenzug Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufnimmt. Dem afrikanischen Treuhandfonds soll eine halbe Milliarde Euro zur Verfügung gestellt werden, um die Entwicklung vor Ort voranzubringen.

Der vielleicht wichtigste gemeinsamer Nenner der Mitgliedstaaten ist ein besserer Schutz der EU-Außengrenzen. Dafür soll die Grenzschutzagentur Frontex mehr Ressourcen erhalten. Merkel sprach am Freitagmorgen von einer zeitnahen Aufstockung der Behörde. Bislang war dies erst mittelfristig geplant.

Zudem sollen die Staaten der Sahel-Region, die viele Flüchtlinge aus Zentralafrika Richtung Europa durchqueren, mehr Unterstützung erhalten, ebenso die libysche Küstenwache - was allerdings äußerst umstritten ist. Sie rekrutiert sich nämlich aus Milizen und pflegt selbst Kontakte zu Schleppernetzwerken. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert schon lange, dass die Küstenwache Flüchtlinge nach Libyen zurückbringt, wo sie »unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert, misshandelt und teilweise sogar versklavt werden«.

Eine Einigung konnten die Mitgliedstaaten bei Sammellagern in Nordafrika erzielen. Dorthin sollen künftig abgefangene Bootsflüchtlinge gebracht werden. Betrieben werden sie möglicherweise von dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) und der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Bereits im Vorfeld des Gipfels fanden intensive Gespräche zwischen der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini und den beiden Organisationen statt. Ein umfassendes Konzept wurde zwar noch nicht veröffentlicht; es heißt aber, in diesen Flüchtlingslagern solle bereits entschieden werden, wer in Europa schutzbedürftig ist und wer nicht. Ob diese Ausschiffungsplattformen, wie die Lager offiziell heißen, tatsächlich errichtet werden, ist allerdings noch unklar. Bislang hat sich nämlich noch kein afrikanisches Land für eine Zusammenarbeit bereit erklärt.

Sammellager befürwortet der Rat auch innerhalb Europas - »auf freiwilliger Basis«, wie es in der Erklärung heißt. Neu ist der Vorschlag keineswegs. Solche Sammelzentren existieren bereits vielerorts, auf der griechischen Insel Lesbos zum Beispiel oder im bayerischen Ingolstadt. Ebenfalls auf freiwilliger Basis können Flüchtlinge laut der Vereinbarung in andere Mitgliedstaaten verteilt werden. Auch diese Möglichkeit gibt es schon. Doch die freiwillige Umverteilung funktioniert nicht, und auf eine Reform können sich die EU-Staaten nicht einigen.

Eine Passage in dem Abschlusspapier betrifft auch den deutschen Asylstreit zwischen der CDU und der CSU: Um die Wanderung von Flüchtlingen innerhalb der EU-Länder zu verhindern, sollen Staaten untereinander Maßnahmen ergreifen und eng miteinander kooperieren, heißt es darin. Merkel, von ihrem Innenminister Horst Seehofer (CSU) unter Druck gesetzt, bemüht sich seit Wochen um Abkommen mit Ländern über eine Rücknahme von Flüchtlingen, die dort bereits registriert sind. Mit Frankreich gibt es schon eine solche Vereinbarung. Am Rande des Gipfels kamen noch weitere mit Griechenland und Spanien hinzu.

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