Sehnsucht, schönste Meeresfrucht

Terézia Mora erhält den diesjährigen Georg-Büchner-Preis

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 5 Min.

Diese Literatur ist eine Gesunde: Sie leidet. Eine Gerettete: Sie weiß nicht wirklich, wie weiter. Eine Glühende ist Terézia Moras Literatur auch: rennt heiß durch die Fröste der Zeit, in einer Sprache, die vielleicht der Film gezeugt hat. Ist eine Sprache ehrlich, will sie Schrei sein. Der Schrei verteidigt, was der Schreibenden zu sagen notwendig erscheint. Aus Notwendigkeit entsteht der süchtige Mensch. Jedenfalls einer, der sich sonst nicht helfen kann. Georg Büchners Dichter Lenz zum Beispiel. Eines der traurigsten Beispiele deutscher Literatur, die so reich ist an Unerfülltheit, an kurzem Aufglühen und trostlosem Versinken. Lenz, der Seelenwunde. Goethegeschädigt. Wirrer Wanderer durch Winterlandschaften. Nie aufgefangen von Gleichstrebenden. Ein Leben »in der kalten Luft der Vergessenheit« (Hans Mayer).

Lenz oder andere Unglückliche - wo gehobene Preise ins glänzende Gespräch kommen, muss an Tragödien gedacht werden, die aller Preisung zugrunde liegen. Muss Text beweisen, dass er was versteht vom Leiden. Den diesjährigen Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhält im Oktober in Darmstadt: Terézia Mora. Die Literatur der 1971 im ungarischen Sopron Geborenen (die seit 1990 in Berlin lebt) hat Menschen in mein Lesegedächtnis gebracht, die immer am falschen Stoff schnüffeln, die sich berauschen, um nicht betäubt zu werden, die das Wesen großer Städte erleben, erdulden: nämlich zermahlen zu werden im Strom der Überreizungen. Etwa der völlig überforderte IT-Spezialist Darius Kopp aus den Romanen »Der einzige Mann auf dem Kontinent« und »Das Ungeheuer«, der die Bedrängungen durch Kapitalismus so verinnerlicht, dass er gleichsam wesenlos wird wie Tschechows Dramen-Nichtheld Iwanow - er gleicht im Beschuss durch Gebote und Paradigmen just jenem Fremdgesteuertsein, das Werner Herzogs Fitzcarraldo in die Worte fasst: »Mein Ich ist in der Überzahl.«

Ein erregender Erzählungsband heißt »Die Liebe unter Aliens«. Die 18-jährige, drogenbewanderte Sandy am Strand: Sehnsucht als schönste Meeresfrucht, und am Ende weiß niemand, wo das Mädchen geblieben ist. Moras Erzählungen sind wie ihre bislang drei Romane: Roadmovies, uns aus dem zungenhängenden Bewusstsein geschnitten, das wahrheitsuchend um die Realität kreist und nur immer brüchige Behauptungen über Zusammenhänge und Lösungswege herauspustet, herauspresst, heraustönt. Wir disputieren immerfort in blinde Flecke hinein. Information ist Erblindung durch Wissen, ist ohnmächtiges Begleitgeräusch zum Hohnknirschen der metallharten Verhältnisse.

Dahinein also Moras Erzählen, für das die Autorin bereits den Bachmannpreis und den Deutschen Buchpreis erhielt. Eine Aura wie bei Büchners Lenz: Der Tag negiert die Nacht - er ist selber eine; die Liebe negiert den Genuss - sie nimmt umgehend der Schmerz, der sowieso kommt. Diese Literatur hört Stimmen von weit, deren Flehen und Flimmern und Fluchen und Fauchen uns aber sehr nahe kommt und sehr bedrängend bleibt. Mora ist eine Meisterin der verschiebbaren Perspektiven, die Erzählebenen wechseln rasant und flüssig; in der Darius-Kopp-Geschichte sind die Seiten geteilt, oben der Fortgang der Dinge, unten als eigenständiger Text ein Tagebuch; oben das Drama, unten Kochrezepte. Das Unterwegssein als Zuhause, eine Odyssee durch den Osten Europas (Kroatien, Albanien), die Selbstsuche beginnt als Selbstaufkündigung, als Sprengung der Panzer, und der Tod einer Liebe ist eine Einübung ins Trauern - das Sterbedaten lange überdauert. Es ist, als wolle Mora Zelte ohne Bodenhaftung aufschlagen und darin ihre traurigen und witzigen Geschichten erzählen. Eine balkanische Impressionistin; eine Malerin des Stammtisches, an dem die Einsamkeiten ihre Weltreisenwirbel austauschen - und sich wundern, dass sie so außenseiterisch veranlagt sind. »Es kommt mir ein entsetzlicher Gedanke: Ich glaube, es gibt Menschen, die unglücklich sind, unheilbar, bloß weil sie sind.« So heißt es in Büchners »Leonce und Lena«.

Ein bestimmter Reflex rückt jeden, der mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt wird, in ein besonders prüfendes Licht. Wer nämlich darf von sich behaupten, dem Anarchisten und libertären Frühkommunisten, dem klassenkämpferischen Büchner auch nur in Ansätzen zu entsprechen? Es ist dieser Druck des unzumutbaren, aber doch quälenden Vergleichs. »Wie darf ich mich auch nur einen Augenblick in dieses Licht bringen, mich dem Schein der Unsterblichkeit aussetzen, ohne mich lächerlich zu machen?« So wand sich 1962 der Ausgezeichnete Wolfgang Koeppen.

Brigitte Kronauer fand 2005 Trost in der wohl entscheidenden Wahrheit: Anders als im »Hessischen Landboten« wisse Büchner sehr wohl, »dass die Welt nicht nur aus Hütten besteht, in denen verborgene Helden wohnen, und aus Palästen, in denen der Satan haust«. In diesem großen Werk findet sich nichts vom »verführerischen Abkürzungsdenken« der historischen Optimisten und Aktivisten. Bei Büchner sind moderne Psychologie, Verzweiflung über Selbst- und Weltentfremdung, über Mechanisierung des Lebens und Langeweile als Grundgefühl flackernd und ex᠆trem vermischt; die Welt ist stets eine komplizierte und metaphysische, der Mensch ein Kompendium aus Bejahung und Verneinung.

»Ich verlange in allem - Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist.« Schrieb Büchner. Wunsch derer, die sich die Welt mutig hernehmen wollen für ihre Erdenzeit, die ja nicht Zeit, sondern nur immer Frist ist - und die also das Recht haben auf Abenteuer und Verschwendung. Räudige, Ruppige, Ruhelose - Schriftsteller. In erster Pflicht Randständige. Stärker kann die Anforderung ans Menschliche nicht werden. Das dürfte wohl nah an Büchner sein. Terézia Mora ist es auch! In dieser Liebe ihrer Literatur zum Fremden; im Übergang des Sichtbaren ins Unfassbare; in diesem Aufscheinen der Dinge, das nicht verleugnet, immer auch Bauplatz für Ruinen zu sein.

»Nicht sterben« übertitelte Mora ihre Frankfurter Poetikvorlesungen. Darin die Geschichte einer Putzfrau aus Terézias Schule. Wie sie sich den Schal um die Schulter warf! Die alltägliche Wahrheit im Schmutz - und dann diese schönste Lüge aus Eleganz. Literatur ist auch Lüge. Aber königlich - wenn sie am Schal für die Putzfrau strickt.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.