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Straßenbahner schlagen Alarm

Brandbrief des Personalrats prangert Personalmangel und marode Infrastruktur an

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wir Arbeitnehmervertretungen sind höchst besorgt über die sich täglich verschärfende Situation im Bereich Straßenbahn«, so beginnt der Offene Brief des Personalrats an die Führungsebene der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG). Es folgt eine lange Liste von Problempunkten im Betrieb. Unter anderem werden nach Aussage der Beschäftigtenvertreter defekte Weichen monatelang nicht repariert. »Wir haben eine unglaubliche Anzahl von eigentlich automatischen Weichen, die von Hand gestellt werden müssen«, erklärt Personalrat Frank Kulicke auf nd-Anfrage. »Der Fahrer muss also anhalten, aussteigen, die Weiche stellen und kann dann erst wieder weiterfahren«, erklärt er. Das kostet natürlich Fahrzeit.

Dazu kommen noch zahlreiche Langsamfahrstellen im Gleisnetz, die die Züge zum Teil nur mit zehn Stundenkilometern passieren können. »Das sind keine kilometerlangen Abschnitte, aber das ständige Abbremsen frisst auch Zeit«, so Kulicke. Es seien so viele, dass der für die nötigen Aushänge vorgesehene Platz zum Teil gar nicht reiche. Auch die Bevorrechtigung der Tram an Ampeln funktioniere viel zu oft nicht, was den Betrieb zusätzlich bremse.

»Wir fahren viel öfter als noch vor einigen Jahren über die Schienen. Deswegen müssen sie auch häufiger saniert werden«, erklärt BVG-Sprecherin Petra Reetz. Einen Rückstand bei der Instandhaltung gebe es nicht.

»Kaum zu realisierende gesetzliche Pausenansprüche« seien das Ergebnis der Fahrzeitverlängerungen wegen der maroden Infrastruktur, heißt es in dem von 15 Personalratsmitgliedern unterzeichneten Brandbrief. Spezielle Kandidaten dafür seien beispielsweise die Linien M2 und M10, sagt Kulicke. »Wir haben je nach Tageszeit und Wochentag inzwischen acht verschiedene Fahrzeitprofile«, entgegnet Reetz. Außerdem gebe es bei der BVG »überhaupt gar nichts«, was nicht durch die Beschäftigten mitbestimmt werde.

Nach Aussage von Frank Kulicke habe der Betrieb inzwischen reagiert: »Es werden verstärkt Sechs-Stunden-Schichten vergeben, bei denen keine Pause gewährt werden muss.« So eine lange Zeitspanne am Stück durch den dichten Stadtverkehr zu navigieren sei äußerst stressig, betont er.

Die Fahrgäste bekommen die Probleme nicht nur durch verlängerte Fahrzeiten zu spüren. Allzuoft fällt die erwartete Straßenbahn auch ganz aus. Am Dienstag standen für 642 Dienste nur 590 Fahrerinnen und Fahrer zur Verfügung. Dieser Tag sei ein Extrembeispiel, heißt es wiederum aus BVG-Kreisen, da es besonders viele Krankmeldungen gegeben habe.

Doch auch an der Organisation des Betriebs lassen die Personalvertreter kein gutes Haar. »Die gesamte Struktur, die im Hintergrund für einen ordnungsgemäßen Straßenbahnbetrieb notwendig ist, ist nicht mit den Leistungszuwächsen der letzten Jahre mitgewachsen«, heißt es in dem Schreiben. Es fehlten Dienstzuteiler, Gruppenleiter, Fahrzeug- und Personaldisponenten, Dienst- und Fahrplaner. Beschäftigte die BVG Ende 2013 direkt und beim Tochterunternehmen Berlin Transport rund 900 Fahrer sind es inzwischen 1150. Aufgrund der »gravierenden Organisationsmängel« und »der nicht leistungsgerechten Entlohnung« verließen viele junge Kolleginnen und Kollegen die BVG nach kurzer Zeit wieder, so die Beschäftigtenvertreter.

»Der Brief bestätigt den Eindruck, den auch wir vom Betrieb haben«, sagt der für die BVG zuständige ver.di-Gewerkschaftssekretär Jeremy Arndt. Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen dürften ein großes Thema im kommenden Jahr werden. Nach sechs Jahren kann der Manteltarifvertrag wieder gekündigt werden. »Ich gehe davon aus, dass es dazu kommen wird«, so Arndt.

»Es brennt an allen Ecken und Enden«, ist Jens Wieseke, Sprecher des Berliner Fahrgastverbands IGEB alarmiert. Er vergleicht die Situation bei der BVG mit der großen Krise bei der S-Bahn im Jahr 2009, als der Betrieb tageweise vollständig zum erliegen kam und sich bis heute nicht vollständig erholt hat. »In diesem Fall kann sich der Senat nicht hinter einer Deutschen Bahn verstecken, auf die er nur begrenzten Einfluss hat. Er ist direkt verantwortlich«, so der Fahrgastvertreter. Eine großzügige Einmalzahlung oder zwei Tage Urlaub mehr wären ein Zeichen der Wertschätzung gegenüber den Beschäftigten, findet er. Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos, für Grüne) sei für ihn »eine politische Enttäuschung«. »Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) muss sich einschalten«, fordert er.

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