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Bundesweit Anlaufstellen bei antijüdischen Vorfällen geplant

Beauftragter der Bundesregierung Klein: Müssen auch »Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsgrenze thematisieren und dagegen vorgehen«

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Berlin. Die Bundesregierung will in allen Groß- und Kreisstädten Anlaufstellen für antisemitische Vorfälle schaffen, die auch strafrechtlich nicht relevante Taten erfassen. »Es darf in der Gesellschaft keine Gleichgültigkeit gegenüber antisemitischen Übergriffen herrschen«, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, der in Düsseldorf erscheinenden »Rheinischen Post« (Freitag).

»Mein Ziel ist es, dass wir einen Überblick bekommen, wie viele antisemitische Vorfälle es unterhalb der Strafbarkeitsgrenze gibt - wie beispielsweise Pöbeleien, Schmierereien oder Anfeindungen«, erklärte er. Bislang sei wenig bekannt, in welchem Umfang diese Art von Antisemitismus in der Bevölkerung verbreitet sei.

Klein sieht als Vorbild die 2015 gegründete Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, die auch Anfeindungen in sozialen Netzwerken und E-Mails aufnimmt. Die geplanten Anlaufstellen sollen nach Kleins Worten über einen Bundesverband als Träger organisiert und durch Mittel des Familienministeriums finanziert werden. »Zuvor müssen wir Kriterien festlegen, was als antisemitischer Vorfall gilt«, sagte Klein. »Ich hoffe, dass das System bis Ende des Jahres anlaufen kann«, fügte er hinzu.

Klein »zutiefst empört« über Attacke in Bonn

Erst in dieser Woche hatte ein neuer antisemitischer Übergriff in Bonn für Aufsehen gesorgt. Ein Deutscher mit palästinensischen Wurzeln hatte unweit der Bonner Universität einen israelischen Hochschulprofessor attackiert. Beim anschließenden Polizeieinsatz verwechselten die Beamten am Tatort das Opfer mit dem Täter und schlugen dem 50-jähriger Hochschullehrer ins Gesicht, wie die Bonner Polizei am Donnerstag mitteilte. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, zeigte sich über den antisemitischen Vorfall »zutiefst empört«.

Den Ermittlern zufolge hatte der 20-jährige Angreifer den israelischen Professor am Mittwochnachmittag am Bonner Hofgarten auf die jüdische Kopfbedeckung angesprochen, die der 50-Jährige trug. Nach zunächst verbalen Beleidigungen schlug der Täter den in den USA lebenden Hochschullehrer mehrfach die Kippa vom Kopf, schubste und schlug ihn gegen die Schulter und sagte hierbei unter anderem »Kein Jude in Deutschland«.

Statt den 20-jährigen Täter überwältigten herbeigerufene Polizisten demnach wenig später den Professor, brachten ihn zu Boden und fixierten ihn. Nach Angaben der eingesetzten Beamten wehrte sich der Hochschullehrer gegen das Vorgehen der Polizisten, die ihm auch ins Gesicht schlugen.

Nachdem Klarheit über die Verwechslung bestand, wurde der 20-Jährige festgenommen. Der Tatverdächtige wurde laut Polizei »aufgrund von ärztlich attestierten psychischen Auffälligkeiten« in eine Fachklinik eingeliefert. Wegen der antisemitischen Attacke ermittelt nun der Staatsschutz. Die Ermittlungen gegen die eingesetzten Bonner Polizisten wegen Körperverletzung im Amt übernahmen Beamte des Polizeipräsidiums Köln.

Die Bonner Polizeipräsidentin Ursula Brohl-Sowa bezeichnete das Einschreiten der Polizisten gegen den Professor als »schreckliches und bedauerliches Missverständnis im Einsatzgeschehen«. Dafür habe sie bei dem Opfer »ausdrücklich um Entschuldigung gebeten«. »Wir werden genau prüfen, wie es zu dieser Situation kam und alles Mögliche dafür tun, um solche Missverständnisse zukünftig vermeiden zu können.«

Der Antisemitismusbeauftragte Klein äußerte in der »Rheinischen Post« vom Freitag die Erwartung, »dass gegen den mutmaßlichen palästinensischen Täter nun rasch ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird«. »Wir müssen zeigen, dass jede Form von Antisemitismus in Deutschland sofort sanktioniert wird.«

Klein fügte hinzu, es erfülle ihn mit besonderer Sorge, dass die Tat offenbar von einem Menschen ausgegangen sei, der schon lange in Deutschland lebe. Zugleich begrüßte der Antisemitismusbeauftragte, »dass sich die Polizei für die Verwechslung von Opfer und Täter entschuldigt hat«.

Jüdischer Aufruf gegen Antisemitismus von 30 Organisationen

Vor dem Hintergrund der jüngsten antisemitischen Vorfälle haben am Montag rund 30 jüdische Organisationen die Bundesregierung und die Länder aufgerufen, deutlich Position gegen Judenhass zu beziehen - auch gegen den von Muslimen. Demokratie-Förderprojekte sollten nur öffentlich gefördert werden, wenn sie sich ausdrücklich gegen Judenfeindlichkeit und anti-israelische Boykott-Forderungen stellten, hieß es.

Unterzeichnet ist die Erklärung unter anderen von zwei jüdischen Landesverbänden, zehn Gemeinden sowie der Amadeu-Antonio-Stiftung, dem Moses-Mendelssohn-Zentrum (Potsdam), dem Musiker Andrej Hermlin und dem Grünen-Politiker Volker Beck.

Auch Religionsverbänden müsse eine deutliche Haltung gegen Judenfeindlichkeit abverlangt werden, etwa bei der Gründung von Ausbildungsstätten für islamische Theologie, hieß es. Der Aufruf bezieht sich damit indirekt auf das jüngst gegründete Institut für islamische Theologie an der Berliner Humboldt-Universität. Dessen Beirat gehören von islamischer Seite ausschließlich drei konservative Verbände an.

Der Aufruf richtet sich an parteinahe Stiftungen, Wissenschaftler sowie den Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung, Felix Klein. »Ich erwarte, dass die Bundesregierung und die Landesregierungen auch den Antisemitismus unter Muslimen als solchen ernst nehmen«, erklärte Lala Süsskind, Vorsitzende des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus sowie Mitinitiatorin der Grundsatzerklärung. Dass der muslimische Antisemitismus von Muslimfeinden instrumentalisiert werde, solle kein Hinderungsrund sein, Judenfeindlichkeit wirksam zu bekämpfen.

Der Jazz-und-Swing-Musiker Hermlin sagte, er unterstütze zwar den Aufruf, mache sich aber keine Illusionen. »Antisemitismus ist ein Wahn, der sich wie Gift verbreitet und mutiger und offener wird«, sagte Hermlin. Auch Die Linke sei nicht vor Judenfeindlichkeit gefeit. Dies sei jüngst in einer gegen Israel gerichteten Erklärung der Partei, der er angehöre, wieder deutlich geworden.

Am Wochenende war in Berlin erneut ein offensichtlich antisemitischer Vorfall registriert worden. Eine Gruppe von Syrern hatte in Berlin-Mitte einen Landsmann verprügelt und am Kopf verletzt. Das Opfer soll eine Halskette mit einem Davidstern getragen haben, wie die Polizei mitteilte.

Der Besitzer des israelischen Restaurants Feinberg's, der im vergangenen Dezember von einem Pöbler antisemitisch beleidigt worden war, veröffentlichte am Samstag auf Facebook Dutzende an ihn gerichtete Hassmails und Morddrohungen. »Da es seitens der Staatsanwaltschaft wenig Erfolge und Verfolgung der Straftaten zu geben scheint, erlauben sich die Täter mehr und mehr«, begründete Yorai Feinberg die Veröffentlichung der Mails. Die Lage eskaliere und nach Verfahrenseinstellungen durch die Justiz sei »jetzt noch keine Hilfe« zu erwarten. Der Facebook-Beitrag wurde inzwischen von Feinbergs-Konto gelöscht, aber auf anderen Konten wieder gepostet. Agenturen/nd

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