Wankende Gewissheiten

Völkerball: nd-Sportredakteur Jirka Grahl hat bei der WM in Russland einige interessante Menschen getroffen

  • Lesedauer: 3 Min.

Do swidanja, Rossija! Am Sonntag gehen viereinhalb Wochen Fußball-WM zu Ende. 32 Tage voller spannender Begegnungen, mit denen man diese Kolumne hier eigentlich noch ein halbes Jahr weiterführen könnte: Mit überraschenden Geschichten über Leute wie Uri Levy aus Israel - ein Kollege aus Jerusalem, der für israelische und arabische Internetseiten schreibt und für sein eigenes Portal betreibt: babagol.net. Er schreibt seine Texte stets zuerst in Englisch. Dann übersetzt er sie mit «Google» ins Hebräische und Arabische, feilt ein bisschen an den Feinheiten, dann gehen die Texte raus: Eine palästinensische Nachrichtenagentur gehört ebenso zu seinen Kunden wie israelische Zeitungen. Wie das geht? «Pah! Meine Mutter ist jüdisch, mein Vater aus Palästina, ich muss mich auf keine Seite stellen», hat er mir erklärt. «Die können mich alle mal. Es gibt gute Menschen und schlechte. Überall. Das ist alles.»

Oder Boris Alexejewitsch Botow, Jahrgang 1923, Oberst der Roten Armee. Der 95-Jährige Veteran des Großen Vaterländischen Krieges lebte nach dem Krieg ein paar Jahre in Berlin, über eine Kollegin der Kasaner Abendzeitung, der ich ein Interview gegeben hatte, versuchte er ein Treffen mit mir zu arrangieren. Er wollte mir von seiner Zeit an der 1. Baltischen Front erzählen und von seinen Erfahrungen in der Sowjetischen Kommandantur in Berlin nach 1946. Als wir schließlich einen Termin gefunden hatten, sagte er ab: Er war krank geworden, und ein wenig hatte ihn auch der Mut verlassen, wie mir meine Kasaner Kollegin sagte. Er fühle sich nur als ein alter Mann, dessen Deutsch mittlerweile viel zu schlecht sei. Botow ließ aber die herzlichsten Grüße an das deutsche Volk ausrichten, und an mich ganz besonders. Rührend.

Oder Wadim Eilenkrig, Jazztrompeter: Der 47-Jährige mit den baumdicken Oberarmen ist der besten Trompeter des Landes, doch als er im Stadion vor mehr als 40 000 Menschen die russische Nationalhymne anspielen sollte, wurde ihm blümerant. Er habe das eigentlich einfache Stück im Stile eines Musikschülers gespielt, spotteten manche später im Internet: «Die haben ja keine Vorstellung, wie das ist» sagte Eilenkrig. «Ich war einfach froh, als ich es geschafft hatte.

Oder Oleg, Nachtzugschaffner aus Moskau. Ich hatte mich in St. Petersburg hinter seinem Rücken tollkühn in den Fanzug gemogelt. Ohne Ticket, aber in dem Wissen, dass a) es für alle umsonst ist und b) stets Schlafplätze frei bleiben. Nun rollte der Zug, ich lag in meiner Koje, und Oleg starrte auf meinen Pass, kratzte sich am Kopf und fragte immer wieder: Wie hast Du es hier reingeschafft? Welche Tür? Ich tat, als verstünde ich nichts, der Zug würde ja nicht halten bis Moskau, was sollte er schon tun? Irgendwann zog Oleg ab, kopfschüttelnd. Auch ich konnte in Russland ein paar Gewissheiten ins Wanken bringen.

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