- Berlin
- Gewalt gegen Wohnungslose
Obdachlose wurden im Schlaf angezündet
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V fordert bundesweites Register für Straftaten gegen Wohnungslose
Mittagszeit am S-Bahnhof Schöneweide. Ein Lebensmittelhändler lässt Reklame für seinen Markt verteilen, Plakate werben für Sauberkeit am Bahnhof, Pendler werden regelmäßig von der S-Bahn ausgespuckt. Doch eines ist anders an diesem Tag. Andi und Lothar fehlen. Die Beiden wurden in der Nacht zuvor mit einer Flüssigkeit übergossen und angezündet. Beide liegen schwer verletzt im Krankenhaus. So schwer, dass sie nicht vernehmungsfähig sind.
Die beiden Wohnungslosen waren bekannte Figuren am S-Bahnhof Schöneweide. »Das waren ruhige Leute, gute Leute«, sagt ein Mann mit ergrauten Haaren und verblichenem Tattoo auf der Stirn. Zeitweise hat er mit den beiden hier am Bahnhof Schöneweide auf der Straße gelebt, kennt den einen seit zehn, den anderen seit 15 Jahren. Er hält eine Mahnwache für die beiden: Vor ihm ausgebreitet liegt eine Decke, auf der sich ein paar Blumen sammeln.
Immer wieder halten Passanten an, fragen ihn, was passiert sei, wer es war, den es da getroffen hat. Wenn sie die Namen hören, dann machen sie entsetzte Gesichter, manche mit Tränen in den Augen. Das Schicksal der beiden geht nicht an ihnen vorbei. Auch ein Mann, der in der Markthalle in der Nähe arbeitet, sagt: »Andi, der war hier für Ruhe und Ordnung zuständig, hat dafür gesorgt, dass Glasscheiben und Abfall aufgeräumt werden, der hat keinen Stress gesucht.« Er schüttelt den Kopf. Die Ermittlungen zu dem versuchten Tötungsdelikt hat die 5. Mordkommission des Landeskriminalamtes übernommen. Nach bisherigem Kenntnisstand der Polizei ging ein bislang unbekannter Mann gegen 23 Uhr zu den beiden Obdachlosen auf dem Cajamarcaplatz am S-Bahnhof Schöneweide und überschütte sie und deren Habseligkeiten mit einer brennbaren Flüssigkeit. Anschließend entzündete der Angreifer die Flüssigkeit und flüchtete.
Bei dem Angriff erlitten die beiden 47 und 62 Jahre alten Obdachlosen lebensbedrohliche Verletzungen. Beide Brandopfer wurden zur stationären Behandlung in ein Krankenhaus eingeliefert. Ein Mitarbeiter aus dem benachbarten Dönerladen hat wohl Schlimmeres verhindert, in dem er den Brand mit einem Feuerlöscher bekämpfte. Am Tag danach steht Imbissbesitzer Öztan Dede selbst am Dönerspieß: Sein Mitarbeiter habe am Abend das Feuer gesehen, aber schon nicht mehr, wer es gelegt hat. Zu dem Motiv für die brutale Attacke konnte die Polizei am Montag zunächst nichts sagen. Die Hintergründe seien »zurzeit noch vollkommen unklar«, hieß es. Die beiden Opfer des Angriffs konnten aufgrund der schwerwiegenden Verletzungen von der Kriminalpolizei noch nicht befragt werden. Beide Opfer haben eine deutsche Staatsangehörigkeit.
Am S-Bahnhof Schöneweide ist Obdachlosigkeit, wie an vielen Orten in der Hauptstadt, täglich sichtbar. »Die Menschen ohne Obdach verbringen hier ihren Tag und schnorren ein bisschen um Geld«, sagt der Bezirksvorsitzende der Linkspartei von Treptow-Köpenick, Carsten Schatz, dem »nd«. Im Bezirk Treptow-Köpenick seien relativ viele Obdachlose und Wohnungslose untergebracht. Bis vor ein paar Jahren waren in der Nähe des S-Bahnhofs auch einige Läden der Neonazi-Szene vorhanden, aus deren Umfeld es im Kiez auch immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen kam. Doch auch wenn die rechtsextreme Infrastruktur inzwischen nicht mehr existiert, heißt das noch lange nicht, dass keine Neonazis mehr da wären. »Wir nehmen wahr, dass die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zunimmt«, sagt Schatz. Es gebe mit der AfD auch inzwischen eine Partei, deren »Geschäftsmodell« es sei, Hass in der Gesellschaft zu fördern. »So ein Hass trägt Früchte«, sagt Schatz.
Die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke, fordert unterdessen ein bundesweites Register, mit dem Übergriffe auf Wohnungslose dokumentiert werden. Rosenke sagte »nd«: »Momentan werden Attacken nicht speziell registriert, sondern nur allgemein unter Hasskriminalität gespeichert.« Unter Hasskriminalität würden aber auch Angriffe auf Polizisten oder beispielsweise angezündete Porsche verzeichnet. »Die Gewalt gegen Wohnungslose wird dadurch unsichtbar.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.