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- Erklärung von Mesut Özil
»Warum bin ich Deutsch-Türke?«
Auszüge der Erklärung von Mesut Özil zu seinem Rücktritt als deutscher Fußballnationalspieler
Mitteilung I zum Treffen mit Präsident Recep Tayyip Erdogan
»Wie bei vielen Menschen geht meine Herkunft auf mehr als ein Land zurück. Obwohl ich in Deutschland aufgewachsen bin, hat meine Familie tiefe Wurzeln in der Türkei. Ich habe zwei Herzen, ein deutsches und ein türkisches...
Mesut Özil wurde am 15. Oktober 1988 in Gelsenkirchen geboren. Dorthin waren seine Großeltern mit Özils damals zweijährigem Vater von der türkischen Schwarzmeerküste übergesiedelt. Seine Fußballlaufbahn begann 1995 bei Westfalia 04 Gelsenkirchen.
Über die Stationen Teutonia Schalke, DJK Falke Gelsenkirchen und Rot-Weiß Essen kam er im Sommer 2000 in die Jugendabteilung des FC Schalke 04. Als 17-Jähriger erhielt er dort sechs Jahre später seinen ersten Profivertrag. 2008 wechselte zu Werder Bremen, 2010 zu Real Madrid, seit 2013 spielt Özil für Arsenal London.
Im DFB-Trikot lief er erstmals 2006 in der U19 auf, ein Jahr später spielte er schon in der U21 und wurde 2009 mit dem Team Europameister. Sein Debüt im A-Nationalteam gab Özil am 11. Februar 2009 beim 0:1 gegen Norwegen in Düsseldorf. Der größte Erfolg: Weltmeister 2014. Bis zu seinem Rücktritt am vergangenen Sonntag absolvierte Özil 92 Länderspiele für Deutschland, in denen er 23 Tore geschossen hat.
Im Mai habe ich Präsident Erdogan in London bei einer Wohltätigkeits- und Bildungsveranstaltung getroffen... Mir ist bewusst, dass das Bild von uns eine große Resonanz in den deutschen Medien hervorgerufen hat, und auch wenn mich einige Leute der Lüge oder der Täuschung bezichtigen, hatte das Foto keine politische Intention... Ein Foto mit Präsident Erdogan zu machen, hatte für mich nichts mit Politik oder Wahlen zu tun, es ging um meinen Respekt für das höchste Amt des Landes meiner Familie...
Obwohl die deutschen Medien etwas anderes dargestellt haben, ist es wahr, dass es ein Mangel an Respekt für die Wurzeln meiner Vorfahren bedeutet hätte - von denen ich weiß, dass sie stolz darauf wären, wo ich heute bin - den Präsidenten nicht zu treffen. Für mich war es egal, wer Präsident war, es war wichtig, dass es der Präsident war. ... Egal, ob es der türkische oder der deutsche Präsident gewesen wäre, ich hätte nicht anders gehandelt.«
Mitteilung II zu Medien und Sponsoren
»...Viele Leute sprechen über meine Leistungen - viele applaudieren und viele kritisieren. Wenn eine Zeitung oder ein Experte eins meiner Spiele kritisiert, dann kann ich das akzeptieren - ich bin kein perfekter Fußballer, und das motiviert mich oft dazu, härter zu arbeiten und zu trainieren. Was ich aber nicht akzeptieren kann sind deutsche Medien, die wiederholt mein doppeltes Erbe und ein einfaches Bild für eine schlechte Weltmeisterschaft einer ganzen Mannschaft verantwortlich machen.
Gewisse deutsche Zeitungen benutzen meinen Hintergrund und das Foto mit Präsident Erdogan als rechte Propaganda, um ihre politischen Ziele voranzubringen. Warum sonst benutzten sie Bilder und Überschriften mit meinem Namen als direkte Erklärung für die Niederlage in Russland? Sie haben nicht meine Leistungen kritisiert, sie haben nicht die Leistungen des Teams kritisiert, sie haben nur meine türkische Herkunft und meinen Respekt für meine Herkunft kritisiert.
Indem die Zeitungen versuchen, die deutsche Nation gegen mich aufzubringen, überschreiten sie eine persönliche Grenze, die niemals überschritten werden sollte. Was ich auch enttäuschend finde, ist die Doppelmoral der Medien. Lothar Matthäus (ein Ehrenspielführer der deutschen Nationalmannschaft) hat vor ein paar Tagen einen anderen Staatschef getroffen und kaum Kritik von den Medien geerntet. Trotz seiner Rolle im DFB ... haben sie ihn nicht dazu aufgefordert, sein Handeln öffentlich zu erklären, und er repräsentiert weiterhin ohne jegliche Abmahnung die Spieler Deutschlands. Wenn die deutschen Medien der Meinung waren, dass ich nicht Teil des Weltmeisterschaftsteams hätte sein sollen, hätte er dann nicht seine Ehrenspielführerwürde verlieren sollen? Macht mich mein türkische Erbe zu einem angemesseneren Ziel?
Ich habe immer gedacht, dass eine «Partnerschaft» Unterstützung in guten wie auch in schwierigeren Zeiten bedeutet. Jüngst hatte ich geplant, zusammen mit zwei meiner wohltätigen Partner meine ehemalige Schule Berger Feld in Gelsenkirchen, Deutschland zu besuchen. Ich unterstützte ein Jahr lang ein Projekt, in dem Einwandererkinder, Kinder aus ärmeren Familien und andere Kinder zusammen Fußball spielen können und soziale Regeln fürs Leben lernen. Einige Tage bevor wir dorthin gehen sollten, verließen mich allerdings meine sogenannten «Partner», die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit mir zusammenarbeiten wollten. Zusätzlich teilte die Schule meinem Management mit, dass sie mich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr da haben wollten, weil sie wegen meines Fotos mit Erdogan «Angst vor den Medien» hatten, besonders, weil die «Rechten in Gelsenkirchen auf dem Vormarsch» seien. Ganz ehrlich gesagt hat das echt weh getan. Obwohl ich in jungen Jahren ihr Schüler war, gaben sie mir das Gefühl, nicht willkommen und ihre Zeit nicht wert zu sein. ...«
Mitteilung III zum DFB
»Die Sache, die mich wahrscheinlich am meisten in den vergangenen Monaten frustriert hat, war die schlechte Behandlung durch den DFB, und vor allem durch den DFB-Präsidenten Reinhard Grindel. Nach meinem Bild mit Präsident Erdogan wurde ich von Joachim Löw gebeten, meinen Urlaub zu verkürzen, nach Berlin zu reisen und ein gemeinsames Statement abzugeben, um alle Diskussionen zu beenden und die Sache richtig zu stellen. Als ich Grindel mein Erbe, meine Vorfahren und die daraus entstandenen Gründe für das Foto zu erklären versuchte, war er viel mehr daran interessiert, über seine eigenen politischen Ansichten zu sprechen und meine Meinung herabzusetzen...
Seit dem Ende der Weltmeisterschaft ist Grindel wegen seiner Entscheidungen vor Turnierbeginn unter starken Druck geraten, und das zurecht. Zuletzt hat er öffentlich gesagt, dass ich noch einmal meine Handlungen erklären solle und gibt mir die Schuld für die schwachen Ergebnisse in Russland, obwohl er mir in Berlin gesagt hat, dass es erledigt sei. Ich spreche jetzt nicht wegen Grindel, sondern weil ich es will. Ich werde nicht länger als Sündenbock dienen für seine Inkompetenz und seine Unfähigkeit, seinen Job ordentlich zu erledigen. Ich weiß, dass er mich nach dem Foto aus dem Team haben wollte, und seine Ansicht bei Twitter ohne Nachdenken oder Absprache veröffentlicht hat, aber Joachim Löw und Oliver Bierhoff haben sich für mich eingesetzt und mich unterstützt. In den Augen von Grindel und seinen Helfern bin ich Deutscher, wenn wir gewinnen, und ein Immigrant, wenn wir verlieren...
Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle? Meine Freunde Lukas Podolski und Miroslav Klose werden nie als Deutsch-Polen bezeichnet, also warum bin ich Deutsch-Türke? Ist es so, weil es die Türkei ist? Ist es so, weil ich ein Muslim bin? Ich denke, hier handelt es sich um eine wichtige Sache. Indem man als Deutsch-Türke bezeichnet wird, werden Menschen bereits unterschieden, die Familie in mehr als einem Land besitzen. Ich wurde in Deutschland geboren und ausgebildet, also warum akzeptieren die Leute nicht, dass ich Deutscher bin?...
Mich wegen meiner Vorfahren zu kritisieren und zu beschimpfen, diese Grenze zu überschreiten ist schändlich, und Diskriminierung als Werkzeug für politische Propaganda zu benutzen, sollte umgehend zum Rücktritt dieser respektlosen Personen führen. Diese Leute haben mein Bild mit Präsident Erdogan als eine Gelegenheit benutzt, ihre zuvor verborgenen rassistischen Tendenzen zum Ausdruck zu bringen, und das ist gefährlich für die Gesellschaft...
Ich will nicht einmal die Hassmails, die Drohanrufe und die Kommentare in den sozialen Netzwerken diskutieren, die meine Familie und ich erhalten haben. Sie alle stehen für ein Deutschland der Vergangenheit, ein Deutschland, das nicht für neue Kulturen offen ist, und ein Deutschland, auf das ich nicht stolz bin. Ich bin zuversichtlich, dass viele stolze Deutsche, die eine offene Gesellschaft begrüßen, mit mir einer Meinung sind...
Die Behandlung, die ich vom DFB und vielen anderen erhalten habe, bringt mich dazu, nicht länger das deutsche Nationaltrikot tragen zu wollen. Ich fühle mich ungewollt und denke, dass das, was ich seit meinem Länderspieldebüt 2009 erreicht habe, vergessen ist. Leute mit rassistisch diskriminierendem Hintergrund sollten nicht länger im größten Fußballverband der Welt arbeiten dürfen, der viele Spieler aus Familien verschiedener Herkunft hat. Einstellungen wie ihre reflektieren nicht die Spieler, die sie repräsentieren sollen.
Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene spielen, so lange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre. Ich habe das deutsche Trikot mit solchem Stolz und solcher Begeisterung getragen, aber jetzt nicht mehr. Diese Entscheidung war sehr schwer, weil ich immer alles für meine Teamkollegen, den Trainerstab und die guten Leute in Deutschland gegeben habe. Aber wenn hochrangige DFB-Funktionäre mich so behandeln, meine türkischen Wurzeln missachten und mich egoistisch als politisches Propagandamittel nutzen, dann ist es genug. Dafür spiele ich nicht Fußball, und ich werde mich nicht zurücklehnen und nichts dagegen tun. Rassismus darf nie und nimmer hingenommen werden.« dpa/nd
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