Antisemiten, die keine sein wollen

Volker Beck beklagt, dass der Antisemitismusvorwurf mittlerweile schwerer wiegt als Antisemitismus selbst

  • Volker Beck
  • Lesedauer: 3 Min.

Mit dem Leumund des Antisemitismus war es nach dem verlorenen Krieg endgültig vorbei. Hitler hat dem Ansehen des Antisemitismus nachhaltig geschadet, weg war er damit allerdings nie. Jahrzehntelang wurde nach 1945 Judenfeindschaft eher hinter vorgehaltener Hand kolportiert. Heute sind die Antisemiten wieder kecker, aber eines ist gewiss: Sie weisen den inzwischen allgemein als ehrenrührig angesehenen Vorwurf des Antisemitismus weit von sich und »prozesshanseln« gegen jeden an, der ihnen dabei nicht auf den Leim geht.

Unsere Geschichte hat die Gesellschaft gegenüber Antisemitismus nicht hinreichend sensibler und wehrhafter, aber dafür die Antisemiten empfindlicher gemacht, wenn man sie beim Namen nennt. Sie verbreiten weiter das »Gerücht über die Juden«, so Adornos Definition des Antisemitismus, wollen aber nicht Antisemiten genannt werden.

Zu den Klassikern des modernen Antisemitismus gehören Verschwörungstheorien: Hinter den Mächtigen in Staat und Wirtschaft stehen demnach die angeblich eigentlich Mächtigen. Die Rothschilds, Rockefellers, Soros’ werden als Machtinhaber fantasiert. Sie seien die Puppenspieler, die Merkels, Macrons und Mays nur ihre Marionetten. Linke wie rechte Antisemiten raunen gern von einer jüdisch imaginierten kapitalistischen Übermacht und von einer vermeintlichen jüdischen Weltherrschaft.

Auch der Sänger der »Söhne Mannheims«, Xavier Naidoo, hat es mit den Rothschilds, den Marionetten und den Puppenspielern. Immer wieder nimmt er in seinen Liedtexten Anleihen an den wahnhaften Weltbildern von Antisemiten und Reichsbürgern. Darf man von jemand, der also antisemitische Sprach- und Gesellschaftsbilder kolportiert, behaupten, er sei ein Antisemit, weil sein Antisemitismus »strukturell nachweisbar« ist?

Das Landgericht Regensburg meint Nein und hat einer Mitarbeiterin der Amadeu-Antonio-Stiftung jene Äußerung verboten. Der Antisemitismusvorwurf wird als schwerwiegender eingestuft als der Antisemitismus selbst, denn »vor dem Hintergrund der Verbrechen der Nazidiktatur sowie des Holocaust (sei) die Bezeichnung als Antisemit in besonderer Weise geeignet …, den so Bezeichneten herabzuwürdigen.« Das allgemeine Verständnis sei, dass damit auch zum Ausdruck käme, »dass derjenige die Überzeugungen teilt, die zur Ermordung von sechs Millionen Juden unter der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft geführt haben«. Ähnlich hatte dies bereits das Landgericht München vor drei Jahren beim Fall des rechten Journalisten Jürgen Elsässer gegen die linke Publizistin Jutta Ditfurth gesehen.

Da stehen die Verhältnisse in der Rechtsprechung Kopf. Die Millionen Opfer der Shoah werden für die Begründung eines Tabus der Antisemitismuskritik missbraucht. Die Rechtsprechung tut sich auch sonst immer wieder schwer, Antisemitismus als solchen zu erkennen. So hatte das Amtsgericht in Wuppertal im März 2017 einen Brandanschlag auf eine Synagoge mit außenpolitisch motivierter, angewandter Architekturkritik verwechselt.

»Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann«, heißt es in der von der Bundesregierung angenommenen Arbeitsdefinition. Er beginnt nicht mit der massenhaften Ermordung der europäischen Juden. Der Holocaust war der verbrecherische Höhepunkt der abendländischen Geschichte des Antisemitismus, nicht ihr Anfang.

Die Gerichte in München und Regensburg verkennen die 2000 Jahre währende, abendländische (Un-)Kulturgeschichte des Antisemitismus. Das christliche Abendland hat seine antijüdischen Wurzeln in der Überwindungstheologie, die letztlich auf den Schultern des Apostels Paulus steht. Teil der Geschichte sind auch antisemitische Einlassungen deutscher Geistesgrößen wie Luther, Kant und Hegel. Wiederkehrende Pogrome, Verfolgung und Diskriminierung waren bestimmend für das Schicksal der jüdischen Minderheit.

Man mag darüber streiten, wie viel Antisemitismus im Antisemiten stecken muss, damit man ihn zu Recht als solchen bezeichnen kann, und was damit geklärt ist. Aber dieser Streit muss im Rahmen der Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit frei austragbar sein, ohne dass deutsche Zivilgerichte die Kritik am Antisemitismus mit einem Zwangsgeld bedrohen.

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