Neues Flüchtlingsdrama vor tunesischer Küste
40 Schutzsuchende harren seit zwei Wochen auf Tankschiff »Sarost 5« aus / Ein Monat ohne Retter: 259 Tote
Rund einen Monat ist es mittlerweile her, dass die zivilgesellschaftliche Seenotrettung vom Mittelmeer vertrieben wurde. Die Schiffe von Mission Lifeline, Sea-Eye und Sea-Watch liegen zwar einsatzbereit im maltesischen Hafen, dürfen aber nicht auslaufen. Das Suchflugzeug Moonbird darf nicht fliegen. Das Resultat: Mindestens 259 Flüchtlinge sind seit diesem Zeitpunkt ertrunken. Die regelmäßig aktualisierte Zahl auf der Webseite »lives-lost-in-the-med.eu« beruft sich auf Angaben der Internationalen Organisation für Migration sowie dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen.
Die Retter sind vorerst ausgeschaltet - auf dem Mittelmeer bahnt sich derweil die nächste Katastrophe an: Seit zwei Wochen hängen rund 40 Schutzsuchende auf dem Gastanker »Sarost 5« fest. Das unter tunesischer Flagge fahrende Schiff hatte die Flüchtlinge laut dem Roten Halbmond in der Such- und Rettungszone von Malta aufgelesen. Malta, Frankreich, Italien und Tunesien verweigern aber die Aufnahme - niemand weiß, wie es weitergeht.
Nahe der tunesischen Küste wartet die Besatzung der »Sarost 5« aktuell auf weitere Anweisungen, Crew und Geflüchtete beklagen schwindende Nahrungs- und Medizinvorräte. Der Rote Halbmond konnte am Mittwoch Lebensmittel auf das Schiff bringen. »Die Situation an Bord hat sich dadurch kurzfristig etwas entspannt«, berichtete Mongi Slim von der Hilfsorganisation. »Dennoch ist es dringend notwendig, dass die Behörden eine Lösung finden.«
Laut Slim befinden sich unter den 40 Schutzsuchenden neben Verletzten auch zwei schwangere Frauen. Der Rote Halbmond bat aufgrund des Notfalls die tunesische Regierung um ihre Aufnahme, Tunis verweigerte jedoch Unterstützung. Die Hilfsorganisation warnte, dass eine der Geflüchteten ihr Baby verlieren könne.
Bei der EU-Kommission in Brüssel wollte man die aktuelle Lage nicht kommentieren. Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos verwies gegenüber Medien lediglich auf ein EU-Konzept für künftige Abkommen mit Drittländern zur Aufnahme von Migranten. Beobachter vermuten, dass über den Fall der »Sarost 5« erneut Politik betrieben werden soll: »Die EU versucht hier Druck auf die nordafrikanischen Länder auszuüben, speziell Tunesien und Afrika, um eine größere Rolle bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise zu spielen«, sagte der Tunesienexperte Hamza Meddeb vom Europäischen Hochschulinstitut in Florenz gegenüber dem britischen »Guardian«. Es sei jedoch klar, dass Tunesien diesen Weg nicht gehen will.
Tunesische zivilgesellschaftliche Gruppen forderten von der Tunis eine Aufnahme der Flüchtlinge, wiesen aber auch auf die komplizierte Lage hin. »Wir haben selbst eine schlechte ökonomische Situation und kein Rechtssystem, um Migranten und Flüchtlinge zu schützen. Die tunesische Regierung will zudem nicht in die Rolle der Aufpasser des Mittelmeeres gezwungen werden«, sagte Messaoud Romdhani von der tunesischen Menschenrechtsorganisation FTDES gegenüber Medien. »Wir wollen aber auch nicht, dass die Flüchtlinge nach Libyen oder in ihre Herkunftsländer zurückgezwungen werden.«
Während der Fall der »Sarost 5« langsam der Öffentlichkeit bekannt wird, regt sich auch in Deutschland Kritik. »40 Menschen bei über 30 Grad, seit 14 Tagen fühlt sich niemand verantwortlich - Europa, was ist los mit dir?«, schrieb der Bundestagsabgeordnete Michel Brandt (LINKE) auf Twitter. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie erklärte: »Hallo EU! Wollt ihr eure Verantwortung für die Menschen auf der ›Sarost 5‹ einfach weiter aussitzen?« Von Sea-Watch hieß es: »Politik und Autoritäten spielen mit Menschenleben.«
Die EU-Kommission hatte am Dienstag Vorschläge zur Einrichtung zentraler Zentren für Mittelmeerflüchtlinge vorgelegt. Demnach sollen aus Seenot gerettete Flüchtlinge künftig in »kontrollierte Zentren« gebracht werden. Diese könnten auf »freiwilliger Basis« in jedem EU-Land aufgebaut werden, hieß es. Die 28 EU-Staats- und Regierungschefs hatten bei ihrem Gipfel Ende Juni zusätzlich beschlossen, die Einrichtung ähnlicher Zentren in Nordafrika zu prüfen.
Das Hilfswerk der Diakonie hatte diesem Wunsch am Donnerstag eine scharfe Absage erteilt. Selbst in der EU gebe es Auffanglager ohne ausreichende humanitäre Standards, erklärte der Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, Martin Keßler, in Berlin. »Wir als humanitäre Helfer können uns deshalb beim besten Willen nicht vorstellen, wie eine menschenwürdige Unterbringung in Staaten wie Libyen funktionieren soll.«
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