Abtrünnige Chefdeuter
Wie die Totalitarismustheorie die 68er mit dem Kapitalismus versöhnte.
Links gestartet, weit rechts gelandet: Über die 68er-Revolte reden, heißt auch, über die 68er-Renegaten zu sprechen. Also über jene revolutionären Wortführer von einst, die sich nach der gescheiterten Revolution - aus welchen Gründen auch immer - von den mehr oder minder marxistischen Zielen verabschiedeten und liberal, konservativ oder gar extrem rechts wurden. Über einzelne, die von Links- nach Rechtsaußen wanderten, ist schon häufig geschrieben worden. Das gilt etwa für Horst Mahler.
Der RAF-Gründer, der früher Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) war, suchte in den 1990er Jahren den Kontakt zu rechtsradikalen Kreisen. Heute ist er ein Neonazi und verurteilter Volksverhetzer. Bernd Rabehl, ein enger Weggefährte Rudi Dutschkes, nahm ebenfalls Kontakte zur NPD und DVU auf, war sogar als deren gemeinsamer Kandidat für die Bundespräsidentenwahl 2009 im Gespräch. Ebenfalls sehr weit rechts landeten der ehemalige Herausgeber von »konkret«, Klaus Rainer Röhl, und die SDSler Günter Maschke und Reinhold Oberlercher.
Obwohl dies zweifellos spektakuläre Beispiele sind, zeitigten sie wohl weitaus weniger Folgen als die politischen Konversionen von jenen, die von Linksradikalen zum (Links-)liberalen, Grünen oder Sozialdemokraten wurden. Denn diese Gruppe prägt die öffentliche Debatte über 1968 ganz wesentlich mit. Götz Aly und vor allem Wolfgang Kraushaar waren in den letzten Jahren gefragte Interviewpartner, wenn es darum ging, in den Massenmedien Stimmen von Zeitzeugen zu 1968 zu Wort kommen zu lassen. Beide waren in der Studentenbewegung und in den 1970ern in kommunistisch-maoistischen Kleinstparteien oder sozialistischen Initiativen aktiv. Kraushaar, der 1968 in Frankfurt am Main sein Studium aufnahm, im SDS aktiv war und für die Sozialistische Hochschulinitiative AStA-Vorsitzender wurde, gilt nicht zufällig als der maßgebliche Chronist der 68er. Er lebt bis heute von den wenigen rebellisches Jahren: Kaum ein anderer dürfte mehr zur Außerparlamentarischen Opposition (APO) veröffentlicht haben.
Aber wichtiger als dieser quantitative Aspekt ist der qualitative. Also die Frage, wie der Zeitzeuge und Politikwissenschaftler Kraushaar das Wirken seiner selbst und das seiner politischen Genossen von einst beurteilt. Will man dies auf einen Nenner bringen, so bietet sich dieser an: Der utopische und kritische Gehalt von 1968 als Aufstand gegen den im Westen kriegerisch-imperialistischen und verwalteten Kapitalismus soll beseitigt werden. Das, was selbst ein sozialliberaler Historiker wie Norbert Frei als Ziele von 68 ausmachte - nämlich »Rätedemokratie auf allen Ebenen und in allen Bereichen, nicht entfremdete Arbeit, selbstbestimmtes Leben und Lernen, antiautoritäre Erziehung, eine Welt ohne Gewalt und gleichwohl ohne Triebverzicht« - kommt bei Kraushaar kaum mehr vor. Vor allem aber wird bei ihm die Entkopplung von Kulturrevolution und Kapitalismuskritik bereits vorausgesetzt.
So gefällt sich Kraushaar seit längerem in der Rolle des Mythen-Zerstörers von 68. In zahlreichen Publikationen versucht er, die linke Protestbewegung zu diskreditieren. Sei es, indem er sie als Produkt der Stasi denunziert, oder ihr Antisemitismus und Nationalismus unterstellt, oder aber Rudi Dutschkes Gewaltverständnis problematisiert.
Als Mittel für diese Entsorgung dient Kraushaar wie insgesamt dem Hamburger Institut für Sozialforschung, an dem er lange angestellt war, die Totalitarismusdoktrin. Dieser Ansatz liberal-konservativen Ursprungs setzt unter Betonung formaler Merkmale und Auslassung politischer wie sozialer Ziele Kommunismus und Faschismus, Links- und Rechtsextremismus im Grunde gleich - und legitimiert damit den parlamentarisch-kapitalistischen Status quo. In Kraushaars vor zehn Jahren publizierten Buch »Achtundsechzig. Eine Bilanz« ist beispielsweise von einem hartnäckigen Flirt mit dem kommunistischen Totalitarismus, von totalitärem Größenwahn und von stalinistisch-totalitären Positionen die Rede. Und in dem dieser Tage zum 50-jährigen Jubiläum publizierten Büchlein »1968. 100 Seiten« treibt er diese Ineinssetzung noch einmal auf die Spitze: Er stellt jenen Sternmarsch nach Bonn, der die Verabschiedung der Notstandsgesetze verhindern sollte, unterschiedslos neben Mussolinis Marsch auf Rom.
Sicher, beides wurde Marsch genannt, wie auch der »lange Marsch« oder der berühmt-berüchtigte »Marsch durch die Institutionen«. Aber diese oberflächliche Analogie verzerrt die Anliegen dieser Märsche grotesk: Der Sternmarsch nach Bonn wandte sich gerade gegen die Einschränkung von demokratischen Rechten, der Marsch auf Rom beförderte diese.
Kraushaars - gelinde gesagt gewagte - Parallelisierung jener Märsche erinnert an ein Zitat des Schriftstellers Klaus Mann. Er schrieb 1949: »Unter den vielen hysterischen und schrillen Stimmen, die das heutige Europa durchgellen, sind die Stimmen gewisser Ex-Radikaler und fanatischer Kommunistenfresser die misstönendsten. In ihrem blinden Eifer, die Aufrichtigkeit ihrer Wandlung zu beweisen und ihre früheren Freunde zu erledigen, gehen diese Leute zum Äußersten: noch die absurdesten und infamsten Mittel sind ihnen recht.«
Das ist eine ziemlich erschöpfende Beschreibung der Alltagspsychologie solcher Seitenwechsler, der eigentlich nur noch Beispiele hinzuzufügen sind. Solche liefert gern auch der Publizist und Kolumnist Götz Aly. Vor zehn Jahren dominierte er mit einem Buch, welches schon im Titel den Grad der darin dann auch tatsächlich enthaltenen Infamie anzeigt, die geschichtspolitische Debatte. »Unser Kampf: 1968 - ein irritierter Blick zurück« spielt unumwunden auf Hitlers »Mein Kampf« an. Alys These lautete: Die 68er-Bewegung weise zahlreiche Ähnlichkeiten mit der nationalsozialistischen Studentenbewegung auf. Sie sei »als sehr deutscher Spätausläufer des Totalitarismus« zu interpretieren. Das war zwar keineswegs eine irgendwie neue Sichtweise. Schon 1967 hatte Jürgen Habermas vor einem linken Faschismus gewarnt und der CSU-Rechtsaußen Peter Gauweiler sowie der konservative Historiker Joachim Fest hatten ähnliche Vergleiche angestellt. Aber Bewährtes geht eben immer, deshalb ist es ja bewährt.
Aly hält übrigens auch heute noch fest an dieser seiner Interpretation: In einem Interview mit der Zeitung »Die Welt« sagte er: »Das Wort ›Kampf‹ war die zentrale Vokabel der deutschen 33er und der 68er. Es gibt durchaus Parallelen zur nationalsozialistischen Studentenbewegung: das Antibürgerliche, das Niederschreien Andersdenkender, der Antiliberalismus, der totalitäre Glaube an eine angeblich gute Sache, die Hinwendung zum einfachen Volk.«
Interessant ist übrigens auch Alys Ausführung über die Reaktionen auf sein Buch. In jenem Interview mit der »Welt« - das Flaggschiff des Springer-Verlags wurde selbst zwischen 2006 und 2014 von dem Ex-Revolutionär Thomas Schmid als Chefredakteur und dann Herausgeber gesteuert - stellt er fest: »Es gibt nach wie vor Leute, die mich seither nicht mehr grüßen. Dafür grüßen mich andere. Aber von den 68ern unter meinen Lesern sagt etwa ein Viertel: ›Ja, hier wird mir etwas erklärt über mein Leben, in diesem Buch erkenne ich mich wieder.‹« Beruhigend ist dabei doch vor allem die Information, dass demnach immerhin drei Viertel dieser 68er offensichtlich nichts mit Alys Entsorgung seiner eigenen Vergangenheit und die seiner 68er-Genossen anfangen können.
Ein vom Aufbruch von 1968 geprägter Intellektueller, der nach wie vor an seiner undogmatisch marxistischen Einstellung festhält, hat die Funktion der Totalitarismusdoktrin für ehemalige Linke schon in den 1990er Jahren analysiert. Anlässlich eines Plädoyers von Kraushaar, sich mit der Totalitarismustheorie zu beschäftigen, beobachtete der Historiker Karl Heinz Roth, der durch seinen Hauptberuf Arzt eine gewisse Unabhängigkeit von intellektuellen Konjunkturen zu genießen scheint, »wie die zunächst aus reiner methodologischer Aporie aufgegriffene Totalitarismusdoktrin auch zu einem Vehikel wurde, um im Zeichen des allgemeinen Wertewandels unter die bisherige höchstpersönlich politische Sozialisationsgeschichte einen Schlussstrich zu setzen.« Und resümierend schrieb er: »Die im Hamburger Institut für Sozialforschung mit nicht wenigen ehemaligen Kommunisten koexistierenden Präzeptoren einer totalitarismusgesättigten neokonservativen Wende auf der inneren Linie der Rest-Linken sind mit ihrem Anliegen - zumindest im Kontext dieser Rest-Linken - weitgehend unter sich geblieben.«
Für diese Rest-Linke mag das auch heute noch weitgehend zutreffen. Doch in der politischen Diskussion hat das Totalitarismuskonzept - weit weniger als etwa in der Geschichtswissenschaft - einen überwältigenden Sieg errungen. Und Kraushaar, Aly und andere Renegaten hatten daran ihren Anteil: Ihre spezifische Funktion besteht darin, dass sie unter den Bedingungen einer fehlenden Systemalternative zum Kapitalismus einen weitaus bedeutenderen Beitrag für die Durchsetzung des »stillen Siegs« des Totalitarismusbegriffs leisten als die herkömmlichen konservativen Intellektuellen.
Denn nichts ist für eine Theorie überzeugender, als wenn sich ehemalige linke Kritiker zu ihr bekennen. Kraushaar, Aly und Co. fungieren mit ihren Bezügen auf den Totalitarismus, die im Kern die Preisgabe von radikaler Gesellschaftskritik zur Folge haben, somit als Kronzeugen gegen jene Linken, die mehr wollen als einen etwas sozialeren, weltoffeneren und grüneren Kapitalismus. Freilich entbindet das auch diese Restlinke nicht von der Pflicht, ihre eigene Geschichte und deren Fehlleistungen kritisch zu beurteilen.
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