- Politik
- Seenotrettung im Mittelmeer
»Warum bringt ihr die Menschen nicht nach Afrika?«
Fünf Mythen über die Seenotrettung
Der »NGO-Wahnsinn« muss beendet werden, fordert jüngst der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz. Und bezeichnete Rettungsorganisationen, die im Mittelmeer Menschen bergen, als »Partner der Schlepper«. Italiens neuer stellvertretender Ministerpräsident Matteo Salvini bezeichnete Geflüchtete als eine »Ladung Menschenfleisch« und bezichtigte die Organisationen, illegal aktiv zu sein. Auch in Deutschland werden die Rettungsschiffe von höchster Stelle als »Menschen-Shuttle« bezeichnet und von »Anti-Abschiebe-Industrie« und»Asyltourismus« gesprochen. Die meisten Schiffe sind momentan auf Malta festgesetzt und können nicht auslaufen. Nicht zuletzt wegen der Welle an Vorwürfen, die sich in den letzten Monaten über sie ergossen hat.
Aber was ist dran, an den Anschuldigungen? Kooperieren die Schiffe der Nichtregierungsorganisationen wirklich mit Schleppern? Und warum bringen die Helfer die Menschen nicht einfach zurück nach Afrika? Das »nd« räumt mit fünf Mythen über die Seenotrettung im zentralen Mittelmeer auf.
- »Warum bringt ihr die Menschen nicht einfach nach Afrika zurück?«
Viele Geflüchtete werden von Seenotrettungsvereinen nicht weit von der libyschen Küste geborgen. Sie geraten dort oft bereits in Seenot, da die Schlepper sie kaum mit dem Nötigsten ausstatten und der Diesel in den Tanks nicht reicht, um nach Europa zu fahren. Statt einer langen und strapaziösen Überfahrt nach Italien, würde es sich nicht anbieten, die Geflüchteten einfach nach Libyen zurück zu bringen? Die einfachste Antwort: Das ist illegal. Dies entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Jamaa Hirsi et al v. Italien 2012. Der Hintergrund: Im Mai 2009 wurden über 200 eritreische und somalische Geflüchtete von der italienischen Küstenwache 35 Seemeilen südlich von Lampedusa aufgegriffen und dann gegen ihren Willen von Kriegsschiffen nach Tripolis gebracht. Dagegen reichten 24 der betroffenen Migranten Klage ein. Am 19. Januar 2012 wurde Italien zu einer Schadensersatzzahlung in Höhe von 330.000 Euro verurteilt. Da zwei der Kläger zwischenzeitlich bei einem anderen Versuch der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen waren, entsprach das 15.000 Euro pro Person. Das Gericht urteilte, dass der italienische Staat die Migranten nicht nach Libyen hätte zurückführen dürfen, da sie dort der Gefahr der Folter ausgesetzt waren (Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention). Hinzu kommt: Die Rettungsorganisationen haben lange dagegen protestiert, Geflüchtete nach Europa zu bringen. Ihrem Selbstverständnis nach retten sie Menschen. Für die Verteilung und Weiterbringung der Geflüchteten sind ihrer Auffassung nach staatliche Stellen zuständig. Am Anfang der Missionen wurden Flüchtlinge auch meist von anderen Schiffen (meist NATO-Kriegsschiffen) transportiert, nachdem sie gerettet worden sind. Erst der sogenannte Code of Conduct, ein Regelwerk für NGOs im Mittelmeer, initiiert durch die Europäische Union, verpflichtet die Retter, die Menschen nach Europa zu transportieren.
- »Die Helfer locken die Menschen doch erst aufs Wasser!«
Ein schwerwiegender Vorwurf, den unter anderem die Journalistin Mariam Lau in einem viel diskutierten »Zeit«-Artikel äußert. Es ist zumindest wahrscheinlich, dass die Schlepper auf Libyen inzwischen fest mit den Rettungsorganisationen rechnen. Dafür spricht, dass immer weniger Schiffe tatsächlich in der Lage sind, das Mittelmeer zu überqueren und an die europäische Küste gelangen. 2015 fuhren die Menschen noch in großen hölzerne Boote bis kurz vor Lampedusa, inzwischen legen fast ausschließlich billige Schlauchboote in Libyen ab, die es niemals alleine nach Europa schaffen würden. Die Gleichung »Mehr Retter = mehr Geflüchtete« geht aber trotzdem nicht auf. Wissenschaftler der Universität Oxford haben verschiedene Zeitperioden miteinander verglichen und sich angeschaut, ob es zu einer vermehrten Fluchtbewegung kommt, wenn mehr Rettungsschiffe im Einsatz sind. Das Ergebnis: Die Rettungsorganisationen wirken nicht als »Pull-Faktor«, es legen nicht mehr Schiffe von der libyschen Küste ab, wenn verstärkt Rettungsaktionen stattfinden. Einen Unterschied stellen die Wissenschaftler Elias Steinhilper und Rob Gruijters aber heraus. Wenn keine Rettungsorganisationen vor Ort sind, sterben mehr Menschen. Auch das Ende der Geflüchtetenrettungsoperation »Mare Nostrum« der italienischen Marine und Küstenwache 2014, die das Entstehen von privaten Seenotrettungsorganisationen erst notwendig gemacht hat, hat die Zahl der Migranten, die von der afrikanischen Küste ablegten nicht gesenkt. Die Todeszahlen stiegen jedoch drastisch.
- Die privaten Rettungsorganisationen sind Taxis, die die Menschen nach Europa bringen!
Das Wort »privat« suggeriert, die Rettungsorganisationen würden alleine entscheiden, wohin sie die Menschen bringen. Und dann aus ideologischen Gründen oder um einen geheimen »Umvolkungsplan« zu verwirklichen, vorwiegend Europa als Ziel auswählen. Tatsächlich sind die »privaten« Rettungsschiffe zwar freiwillig auf Mission im Mittelmeer, sie handeln aber nicht autonom. Alle Rettungsaktionen werden vom Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) koordiniert und geleitet. Das MRCC ist eine aus Rom betriebene Seenotrettungsstelle. Bei ihr laufen alle Notrufe von Seefahrzeugen aus dem zentralen Mittelmeer ein. Geführt wird die Rettungsstelle von italienischen Behörden, die festlegen, wann welches Rettungsschiff zum Einsatz kommt. Ebenso entscheidet die Stelle, welche Häfen die Schiffe anlaufen dürfen, also wo die Geflüchteten an Land gehen dürfen. Das MRCC muss sich bei der Auswahl eines Hafens an geltendes Seerecht halten, und nach diesem müssen gerettete Schiffbrüchige zu einem sicherer Hafen gebracht werden. Welcher Ort ist aber ein sicherer Hafen? Im Falle von schiffbrüchigen Geflüchteten ist das im Zusammenhang mit der Genfer Flüchtlingskonvention zu interpretieren. Diese definiert einen sicheren Hafen als dann gegeben, wenn Geflüchtete nicht Verfolgung und erniedrigende Behandlungen fürchten müssen. Dieses völkerrechtlich geregelte Ausweisungs- und Zurückweisungsverbot wird international als Prinzip des »non-refoulement bezeichnet«. Da Geflüchteten in Libyen oder Tunesien Folter droht, müssen die Rettungsorganisationen auf Anweisung des MRCC Rom die Geflüchteten nach Europa bringen.
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»Die Rettungsmissionen übernehmen Aufgaben, die eigentlich staatlich sind.«
Mariam Lau argumentiert in der »Zeit«, es sei ein Problem, wenn sich private Organisationen in die Aufgaben des Staates einmischen würden. Sie verdeutlicht dies, indem sie Seenotrettungsorganisationen mit Bürgerwehren vergleicht: »Es gibt immer mehr Wohnungseinbrüche und Überfälle, die Polizei ist zu schlecht besetzt – warum nicht private Ordnungskräfte sich selbst einsetzen lassen?« Auch von anderer Seite wird geäußert, die NGOs würden sich anmaßen, staatliche Aufgaben zu übernehmen. Die Argumentation übersieht folgendes: Eine Bürgerwehr will das staatliche Gewaltmonopol aushöhlen. Die Ausübung von Gewalt ist in Deutschland und den meisten demokratisch verfassten Staaten alleinig Sache des Staates. Aber wie abstrus wäre es denn, wenn es ein Rettungsmonopol gäbe? Die Pflicht, in einer Notlage zu helfen, ist nicht nur moralischer Anspruch, sondern auch ein Rechtsprinzip, dass für »jedermann« gilt. Sonst dürften die Menschen nicht mehr in privatisierte Krankenhäuser gehen oder bei einem Unfall Erste Hilfe leisten. Die Pflicht zur Rettung wird in internationalen Gewässern durch den Artikel 98 der UN-Seerechtskonvention geregelt: »Jeder Staat verpflichtet den Kapitän eines seine Flagge führenden Schiffes, soweit der Kapitän ohne ernste Gefährdung des Schiffes, der Besatzung oder der Fahrgäste dazu imstande ist, jeder Person, die auf See in Lebensgefahr angetroffen wird, Hilfe zu leisten; so schnell wie möglich Personen in Seenot zu Hilfe zu eilen, wenn er von ihrem Hilfsbedürfnis Kenntnis erhält, soweit diese Handlung vernünftigerweise von ihm erwartet werden kann (…).«
- »Die NGOs kooperieren mit Schleppern!«
Immer wieder werden Vorwürfe laut, die NGOs kooperieren mit den Schleppern in Libyen. Sie würden über Lichtsignale mit den Libyern kommunizieren und ihre Positionen melden. Richtig ist: Für die Schlepper sind die Rettungen inzwischen Teil ihres Geschäftsmodells. Es darf aber nicht vergessen werden, dass die Seenotrettungsorganisationen zwar viele Menschen bergen, dass die Mehrzahl der Geflüchteten in den letzten Jahren aber von Frachtschiffen, den Küstenwachen und vom Militär aufgelesen worden sind. Um die Position von Schiffen auszumachen, braucht es dabei gar keine Lichtsignale. Das Automatisches Identifikationssystem der Schiffe, oft als AIS abgekürzt, ist öffentlich einsehbar. Das wird auch im Code of Conduct für Rettungseinsätzen im Mittelmeer verlangt und dient auch der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Einsätze. Wahr ist: Nicht die NGOs kooperieren mit Schleppern. Die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union tun das. Denn die sogenannte libysche Küstenwache, die eigentlich aus einer Vielzahl zum Teil rivalisierender Milizen besteht, nimmt nicht nur Geld dafür, aus Libyen ablegende Schiffe voll mit Geflüchteten zu ignorieren oder passieren zu lassen. Zahlreichen Berichten zufolge haben die Milizen auch wiederholt selber Menschen geschmuggelt. Die libysche Küstenwache wird von italienischen, deutschen und europäischen Behörden mit Ausbildungsmaßnahmen, Geld und materiellen Ressourcen wie Küstenwachenbooten ausgestattet.
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