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Orangener Widerstand gegen den Rechtsruck

Protestforscherin Leslie Gauditz über die Hintergründe und Potenziale der »Seebrücke«-Proteste

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 5 Min.

Unter dem Motto »Seebrücke - Schafft sichere Häfen« gibt es seit Juli Proteste in zahlreichen Städten gegen die europäische Abschottungspolitik und die Kriminalisierung von Seenotretter*innen. Wodurch zeichnet sich die Bewegung aus?

Die Mobilisierungen laufen sehr dezentral, es gibt keine einzelne Organisation, die dahintersteckt. Jede Gruppe kann sich die Forderung nach einem Ende des Sterbens im Mittelmeer aneignen. Ein starker Moment liegt zudem in der Öffnung verschiedener Städte für die Protestziele. Primär geht es in diesen erst mal um eine menschenrechtliche Frage, doch sie weisen gleichzeitig auch darüber hinaus.

Leslie Gauditz

Leslie Gauditz engagiert sich im Institut für Protest- und Bewegungsforschung, einer unabhängigen Forschungseinrichtung. Darüber hinaus arbeitet die Wissenschaftlerin am Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik der Universität Bremen. Gauditz beschäftigt sich unter anderem mit Asyl- und Grenzpolitik und sozialen Bewegungen. Mit der Wissenschaftlerin sprach Sebastian Bähr

Wie meinen Sie das?

Die Aktivist*innen kommen vor allem aus dem humanitären und aus dem antirassistischen Spektrum, sind tendenziell eher links, aber gleichzeitig sehr breit gefächert. Zwei Beispiele: Die Willkommensbewegung für die Geflüchteten hatte sich in Deutschland bisher wenig politisch geäußert. Und doch wurden die Helfer*innen in den vergangenen Jahren politisiert, weil sie direkt bemerkt hatten, dass die Flüchtlingspolitik Ungerechtigkeiten produziert. Genau diese Menschen gehen nun auch auf die Straße und beginnen sich politisch zu engagieren. Auch die Gruppe »Interventionistische Linke« ist neben anderen in den Protesten stark verankert. Sie versucht mit ihrem Politikstil die breite Bevölkerung zu erreichen – und das funktioniert hier sehr gut.

Die Proteste sind also eher links aber offen für ein breite Öffentlichkeit?

Menschenleben zu retten ist keine genuin linke Forderung. Die Stärke der Mobilisierungen ist, das man sich keiner bestimmten Partei oder Strömung zuordnen muss. Auch die Farbe Orange wurde in diesem Sinne geschickt gewählt, da sie eben vor allem für die Rettungswesten symbolisch steht.

Schikanen gegen Seenotretter*innen oder Asylrechtsverschärfungen gab es auch schon in den vergangenen Jahren. Warum begannen die Proteste erst jetzt?

Ich habe den Eindruck, dass die Proteste eine Reaktion auf den Rechtsruck sind, den es in Deutschland derzeit gibt, sowohl auf nationaler wie zum Teil auch auf lokaler Ebene. In der Flüchtlings- und Asylpolitik erleben wir einen richtig konservativen Backlash. Es ist so auch kein Zufall, dass die »Seebrücke«-Proteste mit der großen »Ausgehetzt«-Demonstration in München gegen die Politik der CSU zusammenfallen. Viele politische Akteur*innen wollen handlungsfähig werden und neue politische Lösungen finden.

Gibt es kein Vertrauen mehr in das politische Agieren der EU und der Bundesregierung?

Es wird immer deutlicher, dass das Grenzregime und Asylsystem auf EU- wie auf nationalstaatlicher Ebene nicht mehr funktioniert. Man sieht, dass Menschen faktisch sterben, nur weil sie versuchen, hier ein besseres Leben zu führen. Auch viele Städte erkennen das. Sie wollen zeigen, dass politisch etwas anderes möglich sein kann und ihre Häfen öffnen.

Bisher verliefen in der öffentlichen Asyl-Debatte die Pole zwischen einem auf Abschottung bedachten Seehofer und einer vermeintlich humanitären, europäischen Merkel. Wird durch die Proteste ein dritter, wirklich emanzipatorischer Pol sichtbar?

In den vergangenen Jahren war es bezüglich der Asylpolitik kaum möglich, linke Forderungen und Positionen zu formulieren, die über das Bestehende hinausgehen, also dass das Asylrecht existiert und man Menschen dementsprechend auch aufnimmt. Das zu Fordern ist aber ja noch keine Änderung des Status quo. In diesem Moment besteht nun theoretisch die Möglichkeit, darüber hinaus zu gehen. Wenn sich die verschiedenen Kräfte sammeln, könnten sie auch eine generelle Änderung des Migrationsregimes einfordern.

Beteiligte Bürgermeister*innen, Zehntausende Demonstrant*innen auf den Straßen – wird der »Seebrücke«-Protest angemessen in den Medien repräsentiert?

Wenn von der »Seebrücke« niemand direkt in die Talkshows eingeladen wird, kann das auch daran liegen, dass es eben ein dezentrales Netzwerk ist. Es gibt da nicht die eine Person, die das repräsentiert. Bei allen Demonstrationen finden sich jedoch auch immer Ansprechpartner*innen, die tendenziell für die Presse erreichbar sind. Inwiefern diese in den Medien zu wenig berücksichtigt werden, kann ich nicht beantworten.

Wäre ziviler Ungehorsam eine Möglichkeit, um den Protesten mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen?

Die kreativen und friedlichen Proteste sind gerade sehr erfolgreich damit, Aufmerksamkeit zu generieren und das Thema in der Mitte der Gesellschaft zu platzieren. Ich bin mir auch nicht sicher, ob der Begriff hier angebracht ist. Menschenleben zu retten ist kein ziviler Ungehorsam, es wird nur derzeit kriminalisiert.

Wie wichtig ist eine europäische Vernetzung für die Proteste?

Das Ertrinken im Mittelmeer erfordert eine internationale Lösung, da ist es hilfreich, wenn verschiedene Bevölkerungen lokal auf die Straße gehen und das Gleiche fordern. Mittelfristig muss eine europäische Zusammenarbeit zustande kommen, vor allem auf Städteebene. Wie weit die Vernetzung da schon fortgeschritten ist, ist schwer zu sagen. Die Grundlagen sind da: Die zivilen Seenotrettungsinitiativen sind schon international zusammengesetzt, beispielsweise das Projekt »Alarm Phone«. Es gibt bereits ein transnationales antirassistisches Netzwerk. Diese Kooperationen werden sich vermutlich noch intensivieren.

Agieren die Städte, die nun ihre Häfen öffnen wollen und die »Seebrücke«-Protestierenden parallel oder gibt es eine Zusammenarbeit?

Viele Menschen stehen hinter den »Seebrücke«-Zielen. Repräsentant*innen wie Bürgermeister*innen fühlen sich dadurch bekräftigt, die Umsetzung dieser Forderungen anzubieten, selbst wenn sich das Bundesinnenministerium quer stellt. Ich würde es als Wechselspiel verschiedener politischer Akteur*innen analysieren.

Falls der Druck weiter wächst – wie gefährlich können die Proteste für Seehofer werden?

Das, was gerade auf der Straße passiert, zeigt, dass es eine große Unzufriedenheit mit dem Agieren des Innenministeriums gibt. Die Proteste spenden vielen Menschen Hoffnung.

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