Wasser, Abwasser, Gerüche aller Art

Notizen aus Venedig

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

Wasser ist ein Mysterium. Das lehrt mich Venedig gerade wieder. Es bleibt unvorhersehbar, wann und wie es auftritt. Meist überfallartig! Und das in einer Stadt, die auf dem Wasser schwimmt, wo Wasser allgegenwärtig ist - oder gerade deswegen. Das Wasser macht, was es will, es hat hier die alleinige Macht. Es überschwemmt, es sickert, es versiegt - natürlich alles zur Unzeit. Es kommt als Gewitterguss von oben, drückt als Aqua Alta von unten durch jede Ritze, tropft aus defekten Wasserleitungen, und - bei über dreißig Grad - auch aus den Poren der Haut. Die Luftfeuchte hier ist die einer Dampfsauna. Der antike Philosoph Thales muss an Venedig gedacht haben, als er Wasser für den Urstoff hielt, aus dem die Welt gemacht ist. Aber da gab es Venedig noch gar nicht.

Damit man Venedig überhaupt in die Lagune bauen konnte, brauchte man Bäume und die Technik, diese Bäume zu Pfählen zu verarbeiten, auf der man eine so große Stadt gründen konnte. Es heißt, die Gründung von Venedig habe ganze Wälder verschlungen, besonders Istrien wurde dafür fast vollständig abgeholzt. Als man im 15. Jahrhundert feststellte, dass es im näheren Umfeld fast keine Bäume mehr gab, schuf man das Holzverwalteramt, das ein venezianisches Staatsmonopol auf Eichen erließ. Jeder einzelne Baum, der für Venedig interessant war, wurde registriert und erhielt eine Marke (wie in einem Berliner Stadtpark). Wer sich an ihm verging, bekam es mit der Supermacht Venedig zu tun, die auch noch viel Holz für den Schiffbau brauchte und zwar sehr Verschiedenes: Fichten für Masten, Erlen für Streben, Eichen für Bordwände.

Am wichtigsten aber waren die Hölzer für den Bau von Gebäudefundamenten. Die benötigten Pfähle waren 1,50 Meter bis zwei Meter lang und ca. 25 Zentimeter dick. Sie wurden als erstes in die Tonschicht des Untergrunds geschlagen, die Zwischenräume mit Geröll aufgefüllt. Da saßen sie dann fester und zugleich beweglicher als wären sie in Beton gegossen. Die luftundurchlässige Schlammschicht schützt das Holz vor Fäulnis, seit tausend Jahren schon. Auf den Pfählen ruht dann das eigentliche Fundament der Häuser. Man sagt, dass es vor allem diesen Pfählen zu verdanken sei, dass Venedig bisher bei Erdbeben glimpflich davon kam.

Das einzige große Gebäude, das jemals in Venedig einstürzte, war 1902 der Campanile, der Glockenturm der Markuskirche. Er war mehrfach vom Blitz getroffen worden und hatte bereits tiefe Risse in den Mauern. Aber so hätte er vielleicht noch Hunderte Jahre stehen können, wenn die Stadtväter nicht die Idee gehabt hätten - als Tribut an den Tourismus, für den die Stadt dem Teufel ihre Seele verkaufen würde, oder es vielleicht längst schon getan hat - einen Fahrstuhl zum Glockenstuhl zu bauen. Dafür wurden kurzzeitig Stahlmauerhaken, die die Risse in den Mauern zusammenhielten, entfernt; mit bekanntem Ergebnis. Beim Wiederaufbau des Turms in den Jahren darauf, stellte man fest, dass das auf Pfählen ruhende Fundament des Turms noch wie neu war.

Von den fünf Glocken überstand übrigens nur eine den Einsturz, die größte von ihnen, die Marangona, die heute bei Beerdigungen geläutet wird. Die anderen vier wurden 1909 neu gegossen, auch die Nona, die zweitgrößte mit ihrem Klang auf halben Wegen zwischen Dur und Moll. Sie läutet dreimal täglich, auch um Mitternacht, wo sie die um diese Zeit herrschende Stille nicht zerstört, sondern auf wundersame Weise in einen durchdringenden Ton verwandelt. Außer am Sonntag, da läuten die Glocken fast den ganzen Tag, mal einzeln, mal zusammen, aber um Mitternacht herrscht irritierende Stille. Der Schlag (fast möchte man sagen: der Anschlag) der Nona ist in ganz Venedig zu hören, es ist ein Respekt gebietender Klang, mit dem Resonanzboden eines Orchesterinstruments, dem man sich sofort hinzugeben bereit ist. Einen solchen Ton wie den der Nona gibt es auf der Welt gewiss nicht ein zweites Mal. Man hört und ist in Bann geschlagen. Was wird hier gespielt? Die Schicksalssinfonie einer Stadt! Für ein Instrument, das streng genommen keines ist.

Wir waren beim Wasser. Wenn auch das Holz in den Fundamenten der Häuser scheinbar für die Ewigkeit konserviert ist (solange der Wasserstand nicht absinkt), die über 7000 Pfeilerkonstruktionen (Dalben), die in den Kanälen und der Lagune als Wegmarken und Haltepunkte aus dem Wasser ragen, haben eine vergleichsweise kurze Lebensdauer. Bestehend aus jeweils drei Baumstämmen, die zusammengebunden sind, ragen sie zur einen Hälfte aus dem Wasser, zur anderen sind sie unter Wasser. Und genau an dem Punkt, an dem Wasser und Luft aufeinandertreffen, modert es rapide. Pfahlwürmer zerfressen das Holz in kurzer Zeit. Bei 21 000 Holzstämmen ist das ein ganzer Wald, der alle sechs bis sieben Jahre erneuert werden muss.

Das Wasser in Venedig ist nicht nur mächtig, auch tückisch. Es besitzt einen hohen Salzanteil, der an schwülen Sommertagen in der Luft hängt, salpetrig den Putz der Häuser wie Sand herunterrieseln lässt. Der Eingang des Palazzos nebenan wurde kürzlich mit metallenen Stützen versehen, der Putz wölbt sich bedenklich nach vorn, schlägt dicke Blasen. Es sieht aus, als habe das Haus einen beulenartigen Ausschlag. Der Eingang hat sich zur Seite gesenkt. Venedig ist ein schwankendes Schiff. Auch in meiner Wohnung lässt sich keine der Zimmertüren mehr normal öffnen oder schließen, sie schurren und klemmen, alles hat sich verzogen. Das sei nun mal die Feuchtigkeit hier, da könne man nichts machen, sagen die Venezianer.

Am Abwassersystem Venedigs wurde Hunderte Jahre gebaut, mit dem Resultat, dass es niemand durchschaut. Fakt ist, es gibt alte und neue Teile. Die alten funktionieren natürlich besser als die neuen. Das Wasser aus meiner Küche, in der auch der Geschirrspüler und die Waschmaschine stehen, fließt direkt in die extra breite und tiefe Dachrinne. Den weiß schäumenden Abwasserstrom kann ich aus dem Küchenfenster gut beobachten - und das muss ich auch, denn ob es von dort weiter abfließt, ist immer die große Frage. Mal ja, mal nein.

»Niemals die Kaffeetasse im Ausguss ausspülen!«, hatte man mich gewarnt, dann havariert das ganze System. In der Dachrinne sieht es bei Ebbe aus wie der Kanal vor der Tür: eine Mondlandschaft voller Kaffeegrundhalden meiner Vorgänger. Bei Flut (abpumpende Waschmaschine) läuft sie meist über und rieselt dann in die Gasse herab. Unter meinem Küchenfenster könnte man einen Regenschirmverleih aufmachen.

Bleiben wir beim Wasser: die Therme macht offenbar Sommerferien, es gibt - egal ob man den Hahn mit »caldo« oder »freddo« aufdreht - immer nur das gleiche lauwarme Dreißig-Grad-Wasser. Das Rasieren wird so jedes Mal zur blutigen Schaberei, aber gestern, bei 33 Grad, sprang dafür die Heizung an! Nun habe ich jeden Heizkörper einzeln abgedreht. Seitdem gurgelt es böse in den Leitungen. Ich stiere auf die höhnisch blinkende Elektronik der Therme, die ihr Geheimnis natürlich nicht mit mir teilt. Vielleicht hat sie auch bloß einen Hitzekoller und muss sich abreagieren?

Gut, wer immer die passende Lektüre dabei hat. Wasser und Hitze, das ergibt natürlich eine Mischung, die mit Geruch sehr höflich umschrieben ist. Ohne diesen heiklen Zusammenhang überhaupt bemerkt zu haben, hatte ich mir Patrick Süskinds »Das Parfüm« als Reiselektüre in den Koffer gelegt (mit über dreißigjähriger Verspätung, aber Bestseller muss man lange liegen lassen) und nun greift diese Wolke aus menschlicher Niedertracht und virtuoser Meisterschaft nach mir. Ein Wicht vom Fischmarkt, nach seiner Geburt mehr tot als lebendig aus dem Abfall gezogen, wird zum Parfümschöpfer der genial-rücksichtslosesten Art und bleibt dabei doch ein elender Wicht. Sein Problem: er hat keinen eigenen Geruch, keine Aura, man nimmt ihn nicht wahr, er ist in den Augen seiner Umwelt wie unsichtbar. Erst mit den Parfümen, die er - zuletzt aus den Düften junger Mädchen, die er zu diesem Zweck ermordet - komponiert, wächst seine Bedeutung in den Augen der Gesellschaft.

Was ich damit sagen will? Für manchen wäre es schon ein Daseinsbeweis, wenn er bloß angemessen stinken würde. Und die angenehmen Düfte aller Art, sind immer nur aus Lügen gemacht. Seltsam, worauf einen Venedig so alles bringt.

Gunnar Deckers Venedig-Kolumnen der vergangenen Jahre sind in dem Band »Venedig für Skeptiker« (mit Zeichnungen von Dieter Goltzsche) versammelt, Edition Ornament, quartus-Verlag, 168 S., geb., 16,90€

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