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Von der Kontinuität der Ausbeutung

Lange vor Karl Marx begriffen die Textilarbeiterinnen von Lowell das Prinzip Lohnarbeit – und organisierten die ersten Streiks der US-Geschichte

  • Anastasia Spartak
  • Lesedauer: 7 Min.
Weberinnen in einer Textilfabrik in Massachusetts, USA. Kolorierter Stich aus den 1850er Jahren
Weberinnen in einer Textilfabrik in Massachusetts, USA. Kolorierter Stich aus den 1850er Jahren

Sklaverei wird heute oft als Relikt einer beschämenden Vergangenheit betrachtet – vergleichbar mit Kannibalismus, jedenfalls aber etwas, das die Menschheit angeblich hinter sich gelassen hat. In Wirklichkeit existiert Sklaverei aber in veränderter Form weiter: Auch die heutige Zivilisation beruht auf der Ausbeutung von Menschen, die darin zu bloßen Arbeitskräften objektiviert werden.

Bis vor gerade einmal 150 Jahren war der Privatbesitz von Menschen – einschließlich sexueller Gewalt und Mord – in einem Staat völlig legal, dessen Ökonomie heute die größte der Welt ist und dessen demokratisches System bislang als eines der fortschrittlichsten galt: die Vereinigten Staaten von Amerika. Über weite Teile ihrer Geschichte hinweg waren die USA eine Agrarwirtschaft, in der Menschen versklavt wurden. Die Sklaverei trug nicht nur wesentlich zum Bruttoinlandsprodukt bei, sondern spielte auch eine zentrale Rolle bei der Verwandlung der USA von einer Kolonialnation zur globalen Hegemonialmacht. Dieses hochprofitable Geschäftsmodell wurde erst durch den Einsatz von Gewalt beendet – mit dem Bürgerkrieg von 1861, der als Zusammenprall zweier Ausbeutungsmodelle verstanden werden muss: Lohnarbeit im industrialisierten Norden gegen Sklavenarbeit im agrarisch geprägten Süden. Der Sieg des Nordens ersetzte schließlich die konföderierte Flagge durch die heute bekannten Stars and Stripes – und die buchstäblichen Ketten durch Löhne.

Vollkommen unterschiedlich waren die beiden Modelle allerdings nicht. So wurden etwa Management-Praktiken von den Plantagen in die Fabriken mit den (doppelt freien) Lohnarbeiter*innen übernommen und fanden schließlich noch in modernen Büros und Produktionsstätten des 20. Jahrhunderts Anwendung. Um die Ähnlichkeiten zwischen den Wirtschaftssystemen des Nordens und Südens – Lohnarbeit und Sklaverei – hervorzuheben, wurde in den USA 1846 das erste Mal der Begriff der Lohnsklaverei verwendet. Geprägt wurde dieser Ausdruck nicht etwa von Karl Marx, sondern von proletarischen, bildungsfernen jungen Frauen aus dem Städtchen Lowell, Massachusetts, während einer Reihe von Arbeitsprotesten. Diese Frauen erkannten ihre Klassenlage, organisierten einige der ersten Streiks in der US-Geschichte – und hatten damit sogar Erfolg. Werfen wir deshalb einmal einen genaueren Blick auf die Geschichte der »Lowell-Mädchen«.

Gender-Pay-Gap 1.0

Die Stadt Lowell, gegründet in den 1820er Jahren als Zentrum der Textilindustrie am Merrimack River, liegt in Massachusetts und ist nach dem Fabrikbesitzer Francis Cabot Lowell benannt. Bis 1840 arbeiteten dort mehr als 8000 Menschen, und zwar überwiegend Frauen im Alter zwischen 15 und 34 Jahren – viele begannen schon mit zehn Jahren. Die Frauen arbeiteten bis zu 14 Stunden am Tag für einen Wochenlohn von drei bis vier Dollar; dabei kostete ein Bett in den Wohnheimen, die von der Fabrik für die Arbeiterinnen gebaut worden waren, bereits 0,75 bis 1,25 Dollar pro Woche. Obwohl die Arbeiterinnen durch ihre Anstellung ökonomische Unabhängigkeit gegenüber ihren Familien erlangten, verdienten sie nur die Hälfte dessen, was Männer bekamen.

Das Leben in Lowell war streng durch das Textilunternehmen geregelt. Es gab Ausgangssperren, verpflichtende Kirchgänge und einen rigiden Moralkodex; Männer begegneten den Lowell-Mädchen nur in der Rolle der Aufseher und Vorgesetzten. Die Arbeit in der Fabrik war erschöpfend und gefährlich. Die Maschinen dröhnten, die Luft war stickig und die Baumwollfasern verursachten Lungenkrankheiten. Trotz der monotonen Arbeit und trotz ihrer Armut besuchten die Frauen Bildungskurse, nutzten Bibliotheken und gingen ins Theater. Sie dichteten, musizierten und veröffentlichten die Monatszeitschrift »Lowell Offering«, in der sie etwa ihre Gedanken zu Fabrikarbeit und Frauenrolle teilten.

Als das Lowell-Unternehmen 1834 eine Lohnkürzung von 15 Prozent ankündigte, verweigerten die Arbeiterinnen empört die Arbeit. Da das Konzept des Streiks noch unbekannt war, nannten sie ihren Protest ein Turn-out (deutsch etwa: ein Hinausgehen). Und während dieser erste faktische Streik scheiterte, führte zwei Jahre später eine allgemeine Mieterhöhung zu einem machtvollen Protest, der von der gesamten Bevölkerung der Stadt Lowell unterstützt wurde. Die US-amerikanische Schriftstellerin Harriet Hanson Robinson, damals elf Jahre alt, beschreibt den Protest in ihrem Buch »Early Factory Labor in New England« als wichtiges frauenpolitisches Ereignis: »Ein Mädchen stellte sich auf eine Pumpe und brachte in einer präzisen Rede die Gefühle ihrer Gefährtinnen zum Ausdruck. Sie erklärte, dass es ihre Pflicht sei, jeder Lohnkürzung zu widerstehen. Das war das erste Mal, dass eine Frau in Lowell öffentlich sprach – und das Ereignis löste Überraschung und Bestürzung beim Publikum aus.«

Die männlichen Vorgesetzten waren fassungslos und bezeichneten den Protest als »Verrat an der Weiblichkeit«. Dennoch beteiligten sich über 1500 Arbeiterinnen an der Aktion, woraufhin die Produktion stark zurückging. Schließlich nahm die Fabrikleitung die Mieterhöhung zurück. Der Erfolg des Streiks ermutigte die »Lowell-Mädchen« 1845 zur Gründung der ersten Frauen-Gewerkschaft: der Lowell Female Labor Reform Association. Sie forderten vom Massachusetts General Court den Zehn-Stunden-Arbeitstag – ein Anliegen, das damit zum ersten Mal auf staatlicher Ebene behandelt wurde, auch wenn das Landesparlament sich letztlich für unzuständig erklärte.

Vorreiterinnen der Arbeiterbewegung

1845 gründete die Lowell Female Labor Reform Association die Zeitschrift »Voice of Industry«. Darin wurden die Sorgen der US-amerikanischen Arbeiter*innen im Industriezeitalter dokumentiert, insbesondere die Verarmung und der soziale Abstieg der künftigen Arbeiter*innenschaft im Zuge der industriellen Revolution. Hier ersetzten bald Arbeitsverträge den Begriff Preis durch Lohn, der zuvor nur für Tagelöhner*innen verwendet wurde. Lohnarbeiter*innen verkauften so nicht mehr das Produkt ihrer Arbeit, sondern sich selbst – in Form ihrer Arbeitskraft.

Diese neue Abhängigkeit widersprach für viele Arbeiter*innen – insbesondere für Frauen – dem amerikanischen Ideal von Freiheit und Gleichheit. In Artikeln in der »Voice of Industry« machten sie deutlich, dass sie ihren Arbeitgebern keinerlei Ehrerbietung entgegenbrachten, sondern sich als gleichwertig betrachteten – nicht nur ihren Aufsehern gegenüber, sondern auch den Fabrikbesitzern. Die »Lowell-Mädchen« waren unter den ersten Arbeiter*innen, die ihre absolute Abhängigkeit von den Kapitalisten erkannten: Auch wenn Lohnarbeiter*innen juristisch frei sind, sind sie doch sklavisch verwiesen auf den Lohn. Mit dieser Erkenntnis hatten sie einen bedeutenden Einfluss auf das Bewusstsein der Arbeiterklasse sowie auf die Frauenrechts- und Suffragettenbewegung.

Aufgrund der hohen Bedeutung, welche die Textilindustrie für die Weltwirtschaft des 19. Jahrhunderts hatte, war das Schicksal der »Lowell-Mädchen« eng mit der allgemeinen Entwicklung der Produktionsmittel verbunden: So bedienten die Arbeiterinnen etwa mechanisierte Webstühle, die von Lochkarten gesteuert wurden, einer frühen Form programmierbarer Steuerung, die zum Bestandteil von Computern wurde. (Ebenso wie heutige Arbeiter*innen einem Wandel durch den Aufstieg der Künstlichen Intelligenz stehen – aber das wäre ein neues Thema.)

Archaische Moderne

Obwohl auch im Kapitalismus eine Mehrheit der Bevölkerung für die Privilegien einer Minderheit arbeitet, hält sich die Vorstellung, dass die Lohnarbeit eine fortschrittlichere, irgendwie »bessere« Form der Arbeitsorganisation sei als die Sklaverei. Lohnarbeit erscheint nämlich zunächst als ehrlicher Austausch zwischen Gleichen: Die Arbeiter*in verkauft ihre Arbeitskraft an den Arbeitgeber und erhält dafür das Äquivalent an Lohn. Tatsächlich sind Arbeiter*in und Arbeitgeber*in keineswegs gleichgestellt – die eine besitzt nur ihre Arbeitskraft, der andere besitzt die Produktionsmittel sowie eine Reserve potenzieller Ersatz-Arbeitskräfte. Die Arbeiter*in ist insofern gezwungen, ihre Arbeit zu einem Mindestlohn zu verkaufen.

Die formale Freiheit einer Lohnarbeiter*in ist demnach faktisch begrenzt: Sie kann wählen zwischen der Verarmung – zur Zeit der »Lowell-Mädchen«, da es noch keinen Sozialstaat gab, hieß das: dem Verhungern – oder der Anstellung bei einem anderen Arbeitgeber. Hieraus ergibt sich, dass Lohnarbeiter*innen in eine Form freiwilliger Sklaverei eintreten: Sie unterwerfen sich dem Willen des Arbeitgebers, denn nur ein Gehaltsscheck trennt sie von Armut und Obdachlosigkeit. Der Lohn reicht gerade so für das tägliche Leben – Miete, Essen, Kleidung, das Nötigste eben. Geld zu sparen oder Eigentum zu erwerben, ist kaum möglich, also muss sie ihr ganzes Leben lang arbeiten. Da die Arbeitskraft nicht von der Arbeiter*in getrennt werden kann, kauft der Arbeitgeber faktisch nicht nur die Arbeitsleistung, sondern den ganzen Menschen. Moderne Lohnarbeit basiert auf Ausbeutung; wie bereits vor tausenden Jahren werden die Arbeitsprodukte enteignet und kommen dem Eigentümer zugute. Solange dies so ist, bleiben die gesellschaftlichen Verhältnisse archaisch.

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