»Städte können Spielräume ausnutzen«

Leben ohne Angst: Der Soziologe Albert Scherr über Zufluchtsstädte in Deutschland

  • Fabian Hillebrand, Niklas Franzen
  • Lesedauer: 6 Min.

In den USA gibt es schon seit den 1980er Jahren das Konzept der »Sanctuary Cities«. Auch in Deutschland wird das Modell mittlerweile diskutiert. Was ist genau damit gemeint?

Grundidee der »Sanctuary Cities« ist, dass Städte sich für alle ihre Einwohner zuständig erklären, unabhängig von deren aufenthaltsrechtlichem Status. »Sanctuary« heißt »Zuflucht« oder »Schutz«. Dahinter steht in den USA die Idee, dass die Kommunen oder Städte auch für das Wohlergehen von Menschen zuständig sind, die illegalisiert sind, also keinen legalen Aufenthaltstitel haben. Zunächst einmal ist das die symbolische Erklärung, dass sich Städte in Gegensatz zur nationalstaatlichen Politik stellen.

Albert Scherr
Albert Scherr ist Soziologe und Professor an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Migration und Rassismus. Fabian Hillebrand und Niklas Franzen sprachen mit Scherr über die Möglichkeiten für Zufluchtsstädte in Deutschland. 

Welche Vorteile hat eine illegalisierte Person in einer »Sanctuary City«?

Der Anspruch ist, dass alle Bewohner einer »Sanctuary City« alle kommunalen Dienstleistungen, also zum Beispiel Schulen oder Krankenhäuser, ohne Angst in Anspruch nehmen dürfen. Eine Standardformel heißt: »Access without Fear«, also Zugang ohne Angst. Die zweite Standardformel lautet: »Dont' ask, don't tell«. Das heißt, kommunale Bedienstete werden aufgefordert, Menschen nicht nach ihrem Aufenthaltsstatus zu fragen. Denn: Wenn sie den nicht erfahren, machen sie auch diesbezüglich keine Unterschiede zwischen den Menschen.

Und funktioniert das auch unter Donald Trump in den USA?

Die Trump-Administration hat deutlich gemacht, dass sie alle Städte, die sich zu »Sanctuary Cities« erklärt haben, die nationalstaatliche Unterstützung streichen will. Die Städte werden massiv unter Druck gesetzt. Das ist ein schwelender Konflikt mit der Trump-Regierung. Aber es gibt eine Gegenbewegung - nämlich Städte, die an dieser Idee festhalten und sagen: Jetzt erst recht.

Haben Sie ein konkretes Beispiel, was in einer »Sanctuary Cities« anders gemacht wird?

In New York City oder Toronto gibt es entsprechende Erklärungen, die durch den Gemeinderat beschlossen worden sind. Diese sind zum Teil auch in praktische Politik umgesetzt worden, zum Beispiel in Form eines Stadtausweises. Dieser gewährt allen Bewohnern den Zugang zu kommunalen öffentlichen Gütern wie Bibliotheken und Schwimmbädern - auch ohne einen Pass oder nationalen Aufenthaltstitel.

Wie weit ist Deutschland in diesen Debatten?

In Deutschland ist die Idee der Zufluchtsstädte noch nicht so weit. Hier wird das Konzept vor allem von flüchtlingssolidarischen Initiativen und Bündnissen aus der Zivilgesellschaft vorangebracht.

Aber glauben sie, dass Zufluchtsstädte in Deutschland möglich sind?

Sie sind möglich in einem bestimmten Rahmen, dessen Grenzen man sich klar machen muss. Sie sind nicht in gleicher Weise möglich, wie in den USA und Kanada. In den USA ist die Polizei eine kommunale Behörde. Das gibt den Städten viel mehr Handlungsmöglichkeiten, auch in Fragen der Migration. In Deutschland ist demgegenüber inzwischen das Prinzip durchgesetzt, dass der Schulbesuch nicht mehr an Aufenthaltstitel gebunden ist. Ich denke also, das Konzept könnte auch in Deutschland durchaus positive Impulse geben.

Was halten Sie dann in diesem Zusammenhang von dem Vorstoß der Rheinstädte Köln, Bonn und Düsseldorf, die in einem offenen Brief von der Bundespolitik gefordert haben, mehr Geflüchtete aufzunehmen?

Das ist erst einmal begrüßenswert. Weitere Kommunen, wie Freiburg und Potsdam haben inzwischen nachgezogen und angeboten, eine begrenzte Zahl von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer aufzunehmen. Es ist nicht vergleichbar mit den USA und Kanada, geht aber insofern in die gleiche Richtung, als das die Städte eine eigenständige politische Position beanspruchen. Sie wollen mehr sein als die Erfüllungsgehilfen der Bundespolitik und des Nationalstaates. Das ist in Deutschland in dieser Form eine neue Entwicklung. Es muss aber auch festgestellt werden, dass die Reichweite der kommunalen Entscheidungsmacht in Deutschland relativ begrenzt ist.

Welche rechtlichen Spielräume haben Städte hierzulande denn überhaupt? Können sich Städte auch in Deutschland gegen Bundesgesetze auflehnen?

Städte und Gemeinden dürfen sich nicht gegen Bundesgesetze auflehnen. Aber sie dürfen alles tun, was nicht verboten ist. Wenn eine Stadt sich entscheiden würde, eine Rechtsberatung für Illegalisierte zu finanzieren, kann ihr das niemand verbieten. Wenn eine Stadt beschließen würde, eine medizinische Hilfsstruktur für Illegalisierte und Geduldete finanziell zu unterstützen, kann das auch niemand verhindern.

Und wo hören diese Spielräume auf? Kann eine Stadt in Deutschland zum Beispiel eine Abschiebung verhindern?

Nein, eine Stadt kann keine Abschiebungen verhindern. Sie hat aber durchaus Regelungsmöglichkeiten. Ein banales Beispiel: Der Hausmeister einer Flüchtlingsunterkunft kann die Anweisung bekommen, offensiv mit den Abschiebebehörden zu kooperieren. Er kann jedoch auch die Weisung bekommen, nicht weiter zu kooperieren, als unbedingt notwendig. Also: Städte können Spielräume nutzen, sich symbolisch äußern und politischen Druck ausüben.

Birgt die Zusage von einzelnen Städten, Geflüchtete aufzunehmen oder besser zu behandeln, nicht auch die Gefahr, dass Geflüchtete in bestimmten Städten konzentriert oder sogar ghettoisiert werden?

Die Gefahr sehe ich in Deutschland weniger als in den USA und Kanada. Dort reden wir ja zum großen Teil von illegalisierten Migranten. In Deutschland haben wir eine solche Situation von Illegalität deutlich weniger, weil es hier die Kategorie der Duldung gibt. So lange Menschen geduldet sind, unterliegen sie auch administrativer Kontrolle, zum Beispiel einer Wohnsitzauflage. In vielen Großstädten des Ruhrgebiets hatte man die Befürchtung, dass sich große Zahlen von Flüchtlingen in bestimmten städtischen Zentren konzentrieren könnten. Deshalb wird sehr offensiv an der Wohnsitzauflage festgehalten. Das führt dazu, dass es auch in den ländlichen Gebieten Nordrhein-Westfalens viele Geflüchtete gibt. Hätten wir keine Strukturen von Duldung und Wohnsitzauflage, dann wäre natürlich die Wahrscheinlichkeit groß, dass es negative Konkurrenz zwischen den Städten im Sinne von Abschreckungsmaßnahmen gibt.

Die Bürgermeister, die sich in Deutschland für eine Aufnahme von Geflüchteten ausgesprochen haben, kommen sowohl aus der SPD als auch aus der CDU. Kann man sagen, dass das Konzept der Zufluchtsstädte über Parteigrenzen hinweg Zustimmung findet?

Ich würde sagen, in allen Fragen der Flüchtlingspolitik sind die parteipolitischen Konturen außerordentlich unklar. Ob zum Beispiel die Grünen in Baden-Württemberg eine flüchtlingsfreundlichere Politik machen als die CDU in Nordrhein-Westfalen, ist im Detail zu klären. Und Bürgermeister sind oft eher pragmatisch und weniger parteipolitisch ausgerichtet.

Barcelona und Valencia haben Geflüchtete aufgenommen, als Italien die Häfen für Seenotrettungsschiffe dicht gemacht hat. Inwieweit glauben Sie, dass das Konzept der Zufluchtsstätte auch eine Lösung darstellt für die humanitäre Krise, die wir gerade im Mittelmeer erleben?

Wenn Städte für sich diese Möglichkeiten sehen, ist das natürlich ein Schritt in die richtige Richtung. Aber es wäre jetzt auch völlig falsch zu sagen, jetzt kann die Europäische Union, respektive die Bundesrepublik Deutschland aus der Verantwortung entlassen und den Ball den Städten zugeschoben werden. Nach dem Motto: Die werden es schon richten. Sie werden es aber allein nicht schaffen können.

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