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Der miese Ruf ist längst passé
2008 war Liverpool Europäische Kulturhauptstadt. Ein Wiedersehen nach zehn Jahren.
Die »Royal Iris of the Mersey« ist noch ganz die Alte: Schwarz, weißer Aufbau, geht sie wie immer längsseits an den Fähranleger an der Liverpooler Waterfront, pendelt zwischen Birkenhead und Liverpool. Berühmt wurde die »Ferry‚ cross the Mersey« (Fähre über den Mersey) mit dem gleichnamigen Lied der Gruppe Gerry and the Pacemakers Anfang der 60er Jahre.
Ein Matrose wie aus dem Bilderbuch - baumstammdicke, tätowierte Arme, blaue Wollmütze auf dem kahlen Schädel - vertäut die alte Dame, Baujahr ’59, am Fähranleger. Die Metallbrücke saust rasselnd auf den Pier. »Ich mag den Job«, sagt der Seemann. Sein Vater habe 1958 hier angeheuert, er, Gary, vor acht Jahren.
Aus dem Dunst des Stroms steigen die beiden Türme des Royal Liver Building und der Bau der Hafenverwaltung auf. Zur Glanzzeit des damals wichtigsten britischen Hafens verewigten sich große Unternehmen an der Waterfront mit aufwendig verzierten Bürohochhäusern im viktorianischen und edwardianischen Stil. Auf den Turmspitzen des Royal Liver, des Palasts einer Versicherung, sitzen zwei große Vögel: die Liver Birds. Die Bauherren bestellten bei einem Bildhauer Adler. Der Mann wusste aber nicht, wie ein solcher aussieht. So schuf er eine krude Mischung aus Kormoran und Greifvogel.
Über Jahrzehnte hatte Liverpool einen miesen Ruf. Anfang der 80er Jahre verfielen ganze Straßenzüge. Die Werften hatten aufgegeben. Der Hafen war fortgezogen, mit ihm die Industrie. Premierministerin Margaret Thatcher hatte der Wirtschaft eine marktradikale Rosskur verpasst. Jugendliche revoltierten gegen Hoffnungslosigkeit und Armut.
Reich geworden war die Stadt im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Sklavenhandel. Die Kapitäne ließen die Menschen unter Deck in heißer, stickiger Dunkelheit aneinanderketten. Ein Fünftel der Verschleppten starb auf der Überfahrt. »Hier sehen Sie, wie die Gefangenen an Bord leben mussten«, erklärt der Sprecher des Liverpooler Sklavereimuseums. Er deutet in einen fensterlosen Holzverschlag mit nackten, eng übereinandergestapelten Pritschen. Bis zum Verbot des Sklavenhandels vor rund 200 Jahren hatten die Europäer an die zwölf Millionen Afrikaner versklavt. Mit dem Museum stellt sich das neue Liverpool auch den dunklen Seiten seiner Vergangenheit. Das neue Stadtmuseum in einem futuristischen Bau nebenan erzählt die Geschichte der Stadt. Es zeigt auch die Not der Massen während Industrialisierung, Aufschwung und Niedergang.
Charlotte, die als Fremdenführerin arbeitet, kennt noch das graue, von Wirtschaft und Politik aufgegebene Liverpool. Heute überschlägt sie sich fast vor Begeisterung für ihre Stadt. Immer mehr junge Leute ziehen in die einst weitgehend verlassene Innenstadt. Zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr 2008 eröffnete das Einkaufszentrum »One«, inzwischen eines der beliebtesten Shoppingreviere Englands. Neben den Filialen der großen Ketten gibt es hier auch lokale Geschäfte. Darunter liegen die beim Bau des »One« wiederentdeckten Fundamente des ersten Docks der Welt, das 1715 hier gebaut wurde. Die Architekten des Einkaufszentrums integrierten es in den Komplex. Viele profitieren vom Aufschwung der Stadt. Von einer Gentrifizierung merkt Charlotte nichts. »Ich kann mir sogar eine Wohnung in der neuen Marina leisten«, sagt sie, selbst Arbeiterkind.
In den Rope Walks, wo die Seiler früher die Taue für die Schiffe fertigten, haben viele schräge Läden, stylische Cafés, Klubs und Kneipen aufgemacht. Politik, Stimmungen, Trends, Soziales und Kunst mischen sich in Liverpool immer wieder neu. Keine britische Stadt außerhalb Londons gebiert so viele Kreative wie die einstige Hafenstadt.
In den ungezählten Kneipen spielen Musiker - mal organisiert, mal ganz spontan. Die Touristen tummeln sich vor allem an der Mathew Street. Die Wände der alten Backsteinhäuser werfen die Musik aus den diversen Kneipen auf die Gasse, wo sie sich zu einem Brei aus Balladen, Countryklängen und harten Gitarrenakkorden vermischt. Liedermacher, Rockmusiker und immer wieder Coversänger der Beatles sind zu erleben, die Besucher aus der ganzen Welt nach Liverpool lockten: Die Beatles sind hier aufgewachsen. Als sie noch kaum einer kannte, traten sie für ein paar Pfund im Keller eines ehemaligen Lagerhauses auf: im Cavern Club, heute ein Wallfahrtsort für die Fans.
Ein Mann um die 40, gestutzter Bart, blonde, kurz geschnittene Haare, bittet die Passanten um etwas Kleingeld. Er heiße Steve und sei obdachlos. Er habe »Familie, Job und schließlich die Bleibe verloren«, erzählt er in sachlich-ruhigem Ton, »eine lange Geschichte«. Dann zieht er einen Fünf-Pfund-Schein und ein paar Münzen aus seiner Jackentasche. Er brauche noch 17 Pfund für eine Nacht im Hostel. Natürlich suche er Arbeit, aber ohne eine feste Adresse bekomme er keinen Job und ohne Stelle keine Wohnung. Der übliche Teufelskreis. Vor allem belaste ihn die Reaktion der Leute, die er anspricht. »Oft behandeln sie mich abfällig, wie einen Säufer oder Drogenabhängigen.«
Vor Läden, in Hauseingängen und anderen windgeschützten Ecken schlafen heruntergekommene Gestalten in schmutzigen Schlafsäcken. Manche sehen furchtbar aus, zahnlos, betrunken. Steve, der sich so freundlich vorstellt, hat es irgendwie geschafft, sich seine Würde zu bewahren. Vielleicht ist er so ein typischer Liverpooler: Wenn du am Boden liegst, stehst du wieder auf, machst weiter oder probierst etwas Neues. Wie Paul Thompson: Er hat einst auf dem damals berühmtesten Passagierdampfer, der Queen Elizabeth 2, gearbeitet. Bis die Reederei den Linienbetrieb zwischen England und New York einstellte. Er fand einen Job in der Musikwirtschaft. Als er erfuhr, dass im ehemaligen Hauptsitz seines früheren Arbeitgebers ein neues Museum eröffnete, bewarb er sich: Die »British Music Experience«, die die Geschichte der britischen Rock- und Popmusik seit 1945 erzählt. Zufrieden damit? »Ja, auf jeden Fall.«
Mehr als zwei Jahrhunderte lang war Liverpool der Schmelztiegel Europas. Viele, die auswandern wollten, sind hier hängen geblieben. Allein 90 000 Iren strandeten in der Stadt am Mersey auf der Flucht vor der großen Hungersnot in den 1840er Jahren. Bis heute beherbergt Liverpool die größte Chinatown Europas. Dazu kamen Deutsche, Dänen, Italiener und Juden aus Osteuropa.
Seeleute brachten neben Baumwolle und anderen Rohstoffen neue Ideen und die Musik in die Stadt: Folk, Rock, Country. So entstand in den 1950er Jahren der Mersey-Beat, daraus die Klänge der Beatles. Später wuchs aus der Protestbewegung gegen den wirtschaftlichen Niedergang der Punk.
Die Vereinten Nationen verliehen der Stadt 2015 den Ehrentitel UNESCO City of Music. Die UN-Kulturorganisation lobt die zahlreichen Festivals und das Engagement für musikalische Bildung, die den sozialen Zusammenhalt fördere.
Phil, in Liverpool geboren und aufgewachsen, fährt in seinem Minibus Touristen auf den Spuren der Musik durch die Stadt. Fast jedes der Beatles-Lieder erzählt eine Liverpooler Geschichte. Die »Strawberry Fields« waren ein zum Waisenhaus umgebauter Herrensitz mit einem weitläufigen Park. Dort spielten die vier als Kinder Cowboy und Indianer. Später feierten sie hier die ersten Partys.
Auch dem Stadtteil Penny Lane haben sie ein musikalisches Denkmal gesetzt. Kaum jemand weiß noch, dass die Straße, die dem Viertel seinen Namen gibt, nach dem Sklavenhändler James Penny benannt ist. Paul McCartney singt über seine Kindheit im Viertel, erzählt vom italienischen Friseur Bioletti, der den Kindern Bonbons schenkte, Witze erzählte und seinen Kunden den »Entenarsch«-Haarschnitt der Rock ’n’ Roller verpasste. Für Phil Hughes ist das Lied »ein Tagebuch«. Phil hat bei der Armee Deutsch gelernt. Unterwegs erzählt er, dass der Chorleiter der Kathedrale Paul McCartney als Teenie nicht mitsingen lassen wollte. Seine Stimme sei zu schlecht gewesen.
Infos
Liverpool Touristinformation: www.visitliverpool.com
Tipp: Mit dem Liverpool-Pass bekommen Touristen zahlreiche Ermäßigungen.
Deutschsprachige Beatles- Stadtrundfahrten: www.showmeliverpool.com/ guides/phil-hughes
Touristische Infos zu Großbritannien: www.visitbritain.de
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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