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Noch höher hinaus
Wie die Leichtathletik vom großen Erfolg der Europameisterschaften in Berlin langfristig profitieren will
Zwingen kann man keinen. Aber vielleicht hat sich ja der eine oder die andere am Ende doch geärgert, nicht im Berliner Olympiastadion gewesen zu sein. Denn die Leichtathletik-Europameisterschaften waren ein großer Erfolg - für viele. Für Svein Arne Hansen, Präsident des Europäischen Leichtathletikverbandes (EAA), war es sogar »die beste EM aller Zeiten«. Mit rund 360 000 Zuschauern an sieben Wettkampftagen wurde der bisherige EM-Rekordbesuch pulverisiert. Aber vor allem die mediale Aufmerksamkeit durch Fernsehübertragungen mit teilweise mehr als fünf Millionen Zuschauern an einem Finalabend lassen die Verantwortlichen sehr zufrieden zurückblicken.
Vielleicht haben diese Zahlen und das gute Abschneiden des deutschen Teams Jürgen Kessing etwas den Kopf verdreht. Mit insgesamt 19 Medaillen sammelten die deutschen Athleten am meisten, mit sechs goldenen kamen sie hinter Großbritannien und Polen letztlich auf Rang drei des Medaillenspiegels. Den Blick in die Zukunft richtet der Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) jedenfalls allzu optimistisch: »Die Leichtathletik hat durch die Heim-EM für die nächsten Jahre den Schub bekommen, den wir uns erhofft haben.« Woher er das weiß und woran er es festmacht, sagte er nicht. Vielleicht ist es ja auch ein Teil der forschen Werbung für den eigenen Sport, vor allem im Kampf gegen die Übermacht des Fußballs. Immerhin: Die durchweg positive Resonanz, die große Aufmerksamkeit und das öffentlich geäußerte Unverständnis einiger Athleten führte dazu, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihr Fehlen auf der Tribüne des Olympiastadions am Montag entschuldigen ließ. Sie verfolge und begeistere sich für ganz verschiedene Sportarten, und zwar ganz unabhängig davon, ob sie bei Wettkämpfen im Stadion sei oder nicht, teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit.
Verpasst hat die Kanzlerin ein großartiges Erlebnis, zu dem viele beigetragen haben. Zuerst natürlich die Sportler - die Hauptdarsteller, ohne die gar nichts geht. Allein der letzte Wettkampfabend am Sonntag war wunderbare Werbung für die Leichtathletik. Den Höhepunkt aus deutscher Sicht lieferte Gesa Felicitas Krause. Als sie 150 Meter vor dem Ziel und dem letzten Sprung über den Wassergraben unwiderstehlich antrat und die Führung übernahm, tobten die 42 350 Zuschauer und trugen die 26-Jährige mit ihrem Jubel zur Titelverteidigung über 3000 Meter Hindernis ins Ziel.
Den spektakulärsten Wettkampf boten die Stabhochspringer. Ein Athlet verzauberte das Publikum dabei ganz besonders. Nicht der französische Überflieger Renaud Lavillenie, der mit 5,95 Meter Dritter wurde. Auch nicht Timur Morgunov, obwohl der Russe erstmals die Sechs-Meter-Marke knackte. Das reichte nur für Platz zwei. Denn der 18-jährige Schwede Armand Duplantis überraschte alle, auch sich selbst. »Ich kann mich an den Sprung nicht erinnern«, sagte er zu seinem Flug über 6,05 Meter. Als er nach diesem Versuch noch fassungslos auf der Matte lag, rannten seine Konkurrenten zu ihm, drückten und beglückwünschten ihn. Damit haben sie nicht nur »den besten Stabhochsprungwettbewerb aller Zeiten« geliefert, wie der Stadionsprecher schwärmte, sondern der EM auch einen der schönsten Momente beschert: So viel Fairness erlebt man selten. Die Zuschauer honorierten beides mit stehenden Ovationen.
Applaus hatten am Anfang des Abends auch die vielen freiwilligen Helfer bekommen. 2200 Volunteers aus 33 Nationen trugen erheblich zum guten Gelingen der Europameisterschaften bei. Manch ausländischer Journalist verabschiedete sich dankbar persönlich von einigen für ihre ehrenamtliche Hilfe.
Lob bekamen auch die Organisatoren. »Danke Berlin«, sagte der norwegische EAA-Chef zum Abschluss. Auch weil neben den Wettkämpfen im Olympiastadion mit der Europäischen Meile eine neue Präsentationsform sehr gut angenommen wurde: Insgesamt 150 000 Menschen sind in der vergangenen Woche zum Public Viewing und den Siegerehrungen auf den Breitscheidplatz gekommen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller bedankte sich, dass am Ort des Terroranschlags vom Dezember 2016 »ein Zeichen der Völkerverständigung und für die europäische Einheit« gesetzt wurde.
Für Kritik waren die EM-Verantwortlichen in der Stunde des kleinen Triumphs - der Sonntagabend hatte bis zum letzten Finale mehr TV-Zuschauer als das Supercupspiel im Fußball zwischen Eintracht Frankfurt und Bayern München - nicht. Dass unter dem engen Wettkampfprogramm die Zuschauer manchmal den Überblick verlieren, Sieger nicht auf die Ehrenrunde gehen können, Läufer und Läuferinnen manchmal minutenlang an der Startlinie stehen müssen oder ob der lauten Stadionmusik die Konzentration manch Aktiver leidet, schoben die Organisatoren auf das neue Format, wo noch nicht alles hundertprozentig klappen könne. Und vielleicht sind ja auch einige nicht ins Olympiastadion gekommen, weil sie für einen zweistündigen Finalabend wie am Sonnabend Eintrittspreise von knapp 80 Euro hätten zahlen müssen - für einen Sitzplatz in der Kurve.
Der DLV jedenfalls beeilte sich, am Montag mitzuteilen, dass alle sechs deutschen Europameister auch beim ISTAF am 2. September im Olympiastadion starten werden. DLV-Präsident Kessing will auf der EM-Erfolgswelle weiterreiten. Wie? »Wir brauchen Vorbilder!« Die zweimalige EM-Medaillengewinnerin Gina Lückenkemper ist so eins. Aber die 21-jährige Sprinterin ist auch unbequem und kritisch. »Nach Olympia in Rio habe ich gehört: Wir wollen mehr Medaillen, geben aber weniger Geld in den Sport. Da frage ich mich: Wie soll das gehen?« Gleichzeitig beklagt sie das Förderungssystem: »Die Unterstützung setzt erst dann ein, wenn man oben angekommen ist. Man müsste viel mehr in der Jugendförderung tun«, fordert sie.
Zweifel sind also angebracht, ob die EM tatsächlich nachhaltig wirkt. Denn auch weltweit sucht die Leichtathletik nach dem Abtritt von Usain Bolt nach neuen, vermarktbaren Stars. Ob der junge schwedische Stabhochspringer Armand Duplantis solch ein Vorbild für die Jugend sein könnte? »Ich fühle mich doch noch selbst wie ein Kind«, wunderte er sich in Berlin über die »komische« Frage.
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