Knarzigkeit als zweite Haut

Ironisches, Fabel, Lüge, Erfindungen und Tatsächliches: Die Autobiografie des DEFA-Regisseurs Siegfried Kühn

  • Günter Agde
  • Lesedauer: 4 Min.

Aus der gegenwärtigen Masse autobiografischer Texte fällt Siegfried Kühns »fiktional angereicherte Autobiografie« (Klappentext) heraus. »Die Handlung ist nicht frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder realen Personen wären dennoch rein zufällig«, warnt der Autor schon im Vorwort. Und er führt uns tatsächlich in seine »wunderbare abgründige Welt«.

Siegfried Kühn, mittlerweile 80 Jahre alt, hat während seiner 23 Jahre bei der DEFA, der Filmmonopol-Produktionsfirma der DDR, 13 Spielfilme inszeniert. In ihren Figurengeschichten und in ihrer Erzählweise lagen sie allesamt neben der konventionellen Ästhetik. Seine Protagonisten waren keine alltäglich-durchschnittlichen DDR-Bürger, sie waren aber auch keine Dissidenten oder Betonköpfe, sie waren Fremdlinge, Unscheinbare, Knorrige, Unheldische. So gesehen war der Filmmann Kühn ein Außenseiter. Das markanteste und bekannteste Beispiel dafür war sein urkomischer Film »Das zweite Leben des Friedrich Wilhelm Georg Platow« (1973) mit dem unvergleichlichen Fritz Marquardt in der Titelrolle.

Nach dem Ende seiner Filmarbeit begann er zu schreiben. Mit seinem »Erdorgel«-Buch stellt er nun einen Bericht vor, in dem er Episoden seines spröden, brüchigen Lebensweges ironisch verarbeitet und verfremdet. Es ist eine Zusammenstellung sehr verschiedener Textarten, in Tonlage und Erzählhaltung. Ironisches, Fabel, Lüge, Erfindungen und Tatsächliches mischen sich, und oft kann man das eine kaum vom anderen unterscheiden. Gern setzt er auch rhetorische Nebelkerzen und erzeugt Qualmwolken. Auf einem Porträtfoto aber blickt der Autor als junger Mann den Betrachter an und markiert so einen Anspruch auf Authentizität. Damit unterläuft er manche Verschlüsselung.

Er stellt sich als naiver, aber begabter Tor dar, dem allerlei widerfährt und der ohne eigenes Zutun in diverse komisch-groteske Situationen gerät. Dieses Knarzige zieht sich Kühn in seiner Prosa über wie eine Art zweite Haut. Das hilft ihm auch bei der Verfremdung und um sein tatsächliches Ich zu verbergen. Aber dieses Spiel muss man erst mal durchschauen. Kühn will das eigentlich nicht. Man soll ihm nicht auf die Schliche kommen - oder wenn doch, dann nur dort, wo er es erlaubt und es ihm willkommen ist. Etwa bei jenen Lebensstationen, die Kühn zeigen will (andere überspringt er). Seine Kindheit verbringt er in Schlesien, das er mit der Familie verlassen muss. Im Osten Deutschlands findet er eine Bleibe - zur Heimat wird sie ihm nicht. Obwohl seine Großmutter sich rührend um ihn kümmert. Sie wird die Lichtgestalt seiner Jugend, ihr widmet er ein liebevolles Porträt, seinen DEFA-Film »Kindheit« (1987).

Zum Schlüsselbild seines Lebens - wieder so ein Sprung - wird ihm das Bergwerk, eben das »Abgründige« des Buchtitels. Er mochte die geheimnisvolle Welt unter Tage, entdeckte dort auch die Erdorgel, einen mächtigen Geräuschewirbel in einem kesselförmigen Hohlraum, der durch Verwitterung entsteht, eine spröde Allegorie auf das Leben.

Dann springt der Autor nach Moskau: Dort studiert er an der weltberühmten Filmhochschule und arbeitet am Theater. Außer einer Liebelei findet er nur die hygienisch gewöhnungsbedürftigen russischen Toiletten bemerkenswert, ein rechter Ausrutscher. Schließlich arbeitet er als Filmregisseur bei der DEFA. Und lässt sich lange über die Dreharbeiten zu seinem Film »Don Juan, Karl-Liebknecht-Straße 78« (1980) aus, wo doch sein »Platow«-Film sein wichtigster blieb.

Kühns Kaskade aus Sprüngen liest sich nur dort nicht amüsant, wo er persönlich wird und seine Subjektivität ins Grenzenlose schießt. Oder wenn er sich an alten DDR-Zorn erinnert. Etwa wenn er authentische Protagonisten der DDR-Film-Innenperspektive darstellt. Das ist dann nicht fair oder einseitig, sondern nur noch hämisch. So viel Boshaftigkeit gegenüber der DDR-Kulturbürokratie las man selten. Mag sein, dass sie ihn besonders oft geärgert und reglementiert hat, aber trotzdem. Und wie er die »Eulenspiegel«-Filmkritikerin Renate Holland-Moritz, weiß Gott eine kompetente Autorität ihrer Zunft, desavouiert, ist schlicht unanständig. Insgesamt aber doch: lesenswert.

Siegfried Kühn: Die Erdorgel oder Wunderbare abgründige Welt. Verlag Neues Leben. 224 S., geb., 19,99 €.

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