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Verhinderte NSU-Aufklärung
LINKE-Gutachten: Hessens früherer Innenminister Bouffier hat Ermittlungen zu rechter Mordserie erschwert
Seit Beginn der Ermittlungen gegen Temme (Andreas Temme, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes - die Redaktion) war es für die Ermittler wesentlich, die von Temme geführten V-Leute zu vernehmen. Sie erhofften sich davon Informationen über Auffälligkeiten in Temmes Verhalten und vor allem konkrete Informationen über Telefonate zwischen Temme und seinen V-Leuten an den Tattagen und zu tatzeitnahen Treffen. So interessierten sie sich auch für das Telefonat zwischen Temme und Gärtner (V-Mann Benjamin Gärtner - die Redaktion) am Tattag und das Gespräch zwischen beiden am 10. April 2006. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) verweigerte auch nach monatelangem Schriftverkehr die Erteilung einer Aussagegenehmigung, sodass sich die Staatsanwaltschaft im Juli 2006 formal an das Innenministerium wandte. Doch das Innenministerium verwies die Staatsanwaltschaft zurück an das LfV.
Zwischenzeitlich war es den Ermittlern gelungen, anhand der bei Temme beschlagnahmten Unterlagen die Klarnamen der von ihm geführten V-Männer zu ermitteln. Die Staatsanwaltschaft erwog zunächst, die Quellen ohne Einverständnis des LfV zur Vernehmung abzuholen, entschied sich dann aber dagegen und traf sich stattdessen im August 2006 zu einem Gespräch mit dem LfV, an dem auch dessen Direktor Irrgang und der für das LfV zuständige Referent im Innenministerium, Sievers, teilnahmen. In dieser Sitzung wurde überraschend eine Einigung erzielt, nach der es der Staatsanwaltschaft gestattet sein sollte, die Quellen zu vernehmen. Das LfV würde Aussagegenehmigungen erteilen und die Namen der Quellen würden keinen Eingang in die Ermittlungsakte finden. Als Grund für diese Wendung hieß es in einem Vermerk: »Grundlage für das vorstehende Ergebnis war die Tatsache, dass der StA Kassel aus den bisherigen Ermittlungen ohnehin Namen bekannt sind und die StA das Recht hat, diese als Zeugen vernehmen zu lassen.«
Die Linksfraktion im hessischen Landtag hat dieser Tage ihr Sondervotum zur Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses vorgelegt. Der Ausschuss schließt demnächst seine Arbeit ab, weil die Wahlperiode in Hessen zu Ende geht. Das Sondervotum zieht eine kritische Bilanz des Ausschusses und beschäftigt sich intensiv mit der mangelnden Unterstützung der Aufklärung durch Behörden. »Der hessische Verfassungsschutz hat keine, sondern er ist eine Sicherheitslücke, wir sind für seine Auflösung«, fasste die Fraktionsvorsitzende Janine Wissler die Kritik zusammen.
Eingerichtet wurde der Ausschuss im Frühjahr 2014, weil einer der NSU-Morde - an Halit Yozgat, dem Betreiber eines Internetcafés in Kassel - in Hessen verübt worden war und weil ein weiteres Mordopfer, Enver Simsek, einen Blumenhandel im hessischen Schlüchtern geführt hatte.
»nd« dokumentiert einen Auszug aus dem LINKE-Votum, der sich speziell mit dem Verschleiern und Vertuschen seitens der Innenbehörden und des Verfassungsschutzes befasst. Das gesamte Sondervotum kann man im Internet nachlesen unter linksfraktion-hessen.de
Das ist eigentlich logisch. Bei einer Abwägung zwischen dem Schutz der Quellen des LfV einerseits und der Durchführung notwendiger Ermittlungsmaßnahmen in einer bundesweiten Mordserie andererseits kann die Entscheidung nur zugunsten der Durchführung der Ermittlungsmaßnahmen ausfallen, zumal wenn - wie im vorliegenden Fall - der Schutz der Quellen gegenüber der Polizei gar nicht mehr möglich ist, weil die Identitäten der Polizei bekannt sind. Diese Auffassung haben auch mehrere Zeugen bestätigt, unter ihnen der ehemalige Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz (BfV) Fromm und der Irrgang-Nachfolger Eisvogel.
Mit dieser Einigung hätte der Konflikt zwischen Staatsanwaltschaft und LfV eigentlich gelöst sein können. Und immerhin hatte sogar die Besonderen Aufbauorganisation (Mordkommission) Bosporus interveniert und den Bayerischen Innenminister Beckstein dazu bewogen, seinen hessischen Amtskollegen Bouffier zur Freigabe der V-Leute für Polizeivernehmungen aufzufordern. Bouffier verweigerte und verhinderte aber hartnäckig, dass die Einigung zwischen Staatsanwaltschaft und LfV umgesetzt wurde.
Weitere eineinhalb Monate lang fanden Treffen zwischen LfV und Innenministerium statt, an denen teilweise auch Bouffier persönlich teilnahm. An Treffen mit den polizeilichen Ermittlern nahm Bouffier hingegen nicht teil. Hervorzuheben ist, dass Bouffier als Innenminister sowohl für die Belange des LfV als auch die der Polizei zuständig gewesen ist. Die deutlich formulierte Kritik des Referenten des Landespolizeipräsidiums, der auftragsgemäß den Fall beobachtete, Kontakt zur Mordkommission Café hielt und sich auch im NSU-Untersuchungsausschuss über die Rolle des LfV empörte, verpuffte hingegen.
Stattdessen ließ Bouffier am 19. September 2006 vom BfV eine Stellungnahme darüber einholen, inwiefern die von Temme geführten Quellen aus dem Bereich »Ausländerextremismus« von Bedeutung für die bundesweite Sicherheit seien. Benjamin Gärtner, als Quelle aus dem Bereich Rechtsextremismus, wurde erst gar nicht erst zur Freigabe angefragt. Das BfV war der Auffassung, dass die Quellen aus dem Bereich Ausländerextremismus von hoher Bedeutung seien, was nun als Grundlage für Bouffier genommen wurde, alle Quellen, also auch Gärtner, pauschal zu sperren. Für die Erarbeitung der Stellungnahme im BfV verantwortlich war Dr. Eisvogel, der einen Tag nach der Übersendung dieser Stellungnahme von Bouffier zu Irrgangs Nachfolger als LfV-Direktor in Hessen ernannt wurde.
DIE LINKE kritisiert deutlich, dass in einer bundesweiten Mordserie ein halbes Jahr für diese Entscheidung verging, statt dass die Ermittlungen beschleunigt wurden, dass Bouffier persönlich die Einigung zwischen LfV und Staatsanwaltschaft zurücknahm, dass er das BfV bat eine Stellungnahme zum LfV abzugeben, statt beispielsweise das Justizministerium, und dass er den Autor dieser BfV-Stellungnahme am Tag nach deren Übersendung zum neuen LfV-Chef ernannte.
Zudem ist wichtig, dass Eisvogel in seiner Zeugenvernehmung im Untersuchungsausschuss betonte, nur eine »Stellungnahme«, keine »rechtliche Stellungnahme« abgegeben oder einen Abwägungsprozess zu den Mordermittlungen vorgenommen zu haben. Er verneinte vielmehr ausdrücklich jeden rechtsverbindlichen Charakter der Stellungnahme und erklärte, damit keinen Entscheidungsvorschlag gemacht zu haben: »Um mehr wurde nicht gebeten, insbesondere auch nicht um eine rechtliche Stellungnahme oder gar einen Entscheidungsvorschlag. Auch war keineswegs die Rede davon, ob und inwieweit man sich mit den Strafverfolgungsbehörden bereits auf eine nur teilweise unmittelbare förmliche Einvernahme von Quellen geeinigt habe.«
Volker Bouffier ist damit vorzuwerfen, die Ermittlungen in einer bundesweiten Mordserie persönlich und ohne eine rechtswirksame Abwägung behindert zu haben. Die BfV-Stellungnahme war kein adäquater Ersatz für eine ausgewogenen Abwägungsentscheidung und die Berufung ihres Verfassers zum neuen LfV-Präsidenten nur einen Tag später hat mehr als nur ein Geschmäckle.
Wie gezeigt wurde, nahm Bouffier bei seiner Entscheidung zur Sperrung der V-Leute auch nicht die notwendige Abwägung vor. Zu V-Mann Gärtner wurde nicht mal eine unverbindliche Stellungnahme eingeholt, er einfach pauschal mitgesperrt - und das obwohl die Polizei sich explizit für Gärtner als rechten Straftäter interessierte und ihn auch deshalb vernehmen wollte. Anfang Oktober erließ Bouffier die Sperrerklärung, in welcher er pauschal, mit einem Satz, die Aussagegenehmigung für alle von Temme geführten Quellen verweigerte. DIE LINKE kritisiert nicht nur, dass Bouffier die Quellen gesperrt und damit persönlich die Mordermittlungen behinderte, sondern dass der Vorgang insgesamt rechtswidrig war.
Bouffier verteidigt bis heute seine damalige Entscheidung und auch CDU/Grüne schließen sich in ihrem Abschlussbericht dieser Argumentation an. Laut Bouffier sei es darum gegangen, »abzuwägen zwischen dem Abarbeiten einer unergiebigen Spur und den Sicherheitsinteressen des Landes«.
Das ist falsch - weder ging es der Staatsanwaltschaft darum, eine unergiebige Spur abzuarbeiten, noch wären die Sicherheitsinteressen des Landes durch die Vernehmungen durch Staatsanwaltschaft und Polizei in der angedachten Form in irgendeiner Weise berührt gewesen. Vielmehr war es in den Augen der Ermittler ein »Muss«, z.B. den V-Mann zu vernehmen, mit dem Temme kurz nach dem Tatzeitpunkt telefoniert hatte. Da die Identitäten der V-Leute der Staatsanwaltschaft sowieso schon bekannt waren, wäre durch eine Vernehmung der V-Leute in der für solche Vernehmungen üblichen Form (keine Nennung der Namen in den Ermittlungsakten, ggf. kein Vernehmungsprotokoll, sondern Behördenzeugnis) weder eine Gefährdung der V-Leute noch von Sicherheitsinteressen eingetreten.
Es ging dem LfV offenbar vor allem darum, die V-Leute durch die polizeilichen Vernehmungen nicht abzuschrecken, sodass diese möglicherweise die Zusammenarbeit mit dem LfV aufgeben könnten - mithin ging es um »absoluten Quellenschutz«, der den polizeilichen Ermittlungen in der Mordserie vorangestellt wurde. An dieser Stelle ist anzumerken: Auch die Aufklärung einer bundesweiten Mordserie mit bis dato neun Toten - bzw. später zehn Toten, zwei Bombenanschlägen und 15 Raubüberfällen - ist im Sicherheitsinteresse des Landes. Wenn V-Leute hierzu nicht von der Polizei befragt werden dürfen, wozu dann?
Da sich die Sperrerklärung entgegen der grundsätzlichen Anforderungen auf alle Quellen bezog, war auch keine differenzierte Abwägungsentscheidung erkennbar. Die Behauptung, die Staatsanwaltschaft habe »alle oder keinen« vernehmen wollen, wurde zwar gerne von Bouffier und weiteren Zeugen des Innenministeriums vorgetragen, findet allerdings keinerlei Bestätigung durch Vermerke oder Zeugenaussagen der Ermittler und ist eine reine Schutzbehauptung: Das LfV selbst hatte gegenüber dem Innenministerium erklärt, mit der Vernehmung von zwei Quellen einverstanden gewesen zu sein (da es diesen Quellen aufgrund der vorherigen Zusammenarbeit mit der Polizei »weniger ausmachen« würde). Warum Bouffier auch für sie keine Aussagegenehmigung erteilte, ist völlig unerklärlich.
Außerdem behauptete er im Untersuchungsausschuss, dass Temme eine rechte Quelle geführt hätte, sei ihm nicht bekannt gewesen, und hätte er dies gewusst, hätte er für diese Quelle eine Aussagegenehmigung erteilt. Das ist nachweislich falsch, denn Vermerke belegen, dass ihm persönlich Unterlagen vorlagen, aus denen hervorgeht, dass die Ermittler auch die Quelle aus dem Bereich Rechtsextremismus vernehmen wollten. Die Sperrerklärung hat er dennoch auch für Gärtner erteilt. Und wäre es tatsächlich so, dass Bouffier eine Quelle gesperrt hat, ohne zu wissen, um wen es sich dabei handelt, dann widerspricht das umso mehr den grundsätzlichen Anforderungen einer Abwägungsentscheidung.
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