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Und immer noch ein Magenschwinger
Michael Kretschmer, der als »Gute-Laune-Onkel« für die CDU die Wahl 2019 retten will, ist in schwerem Fahrwasser
Der Hieb saß. Ein »ordentlicher Magenschwinger«: So beschrieb Michael Kretschmer einst das Gefühl, als er im Herbst 2017 bei der Bundestagswahl seinen Wahlkreis in Ostsachsen verloren hatte. Mit 27 Jahren war der Görlitzer in das Berliner Parlament eingezogen, mit 42 war er draußen: überholt von einem Malermeister von der AfD. Die hatte außerdem die erfolgsverwöhnte sächsische CDU erstmals bei einer Bundestagswahl auf die Plätze verwiesen - wenn auch nur mit einem Zehntelprozent Vorsprung. Ein paar Tage war Kretschmer, der seit 2005 auch Generalsekretär der CDU im Land ist, am Boden: »ohne Plan B«, wie er sagte. Dann, im Dezember, stand er wieder: als Ministerpräsident und Hoffnungsträger seiner Partei für die Landtagswahl am 1. September 2019, bei der eine Wiederholung des Debakels um alles in der Welt vermieden werden soll.
Dafür eilt er seither durchs Land - als »oberster politischer Feuerwehrmann«, wie die »Frankfurter Rundschau« schrieb. Sein wichtigstes Rezept: ein offenes Ohr. Er redet mit allen und jedem; er reist samt seiner Minister in die Provinz und hört Bürgern zu. »Sachsengespräch« heißt das Format, das bereits in elfter Auflage am Donnerstagabend auch in Chemnitz stattfand. Doch von ruhigem Plausch konnte dort keine Rede sein. Rechte mobilisierten zu Protesten; ein Großaufgebot der Polizei sicherte die Veranstaltung ab; Initiativen wie »Chemnitz nazifrei« verzichten trotzdem auf Gegenaktionen, weil sie nach der Eskalation von Sonntag und Montag Angst um Leib und Leben hatten.
Immerhin: Kretschmer hielt am Termin fest und stellte sich. Dennoch waren die in vielerlei Hinsicht furchtbaren Ereignisse von Chemnitz auch für die persönliche politische Mission des CDU-Mannes ein Magenschwinger - so wie zuvor die Affäre um das Agieren der Polizei gegenüber einem ZDF-Team während einer Pegida-Demonstration gegen die Kanzlerin in Dresden. Dort stellte er sich mit einer voreiligen Äußerung im Nachrichtendienst Twitter vor die »seriöse« Polizei, nur um blamiert dazustehen, als herauskam, dass ein die Journalisten attackierender »Wutbürger« im Landeskriminalamt (LKA) beschäftigt ist. In Chemnitz ließ der Ministerpräsident volle zwei Tage verstreichen, bevor er sich, wenn auch mit klaren Worten, zu der Hetzjagd und einem Massenaufmarsch von Nazis und »besorgter« Mitte äußerte. Kürzlich noch war gelobt worden, dass Kretschmer bei einer Gewerkschaftskundgebung am 1. Mai in Chemnitz und beim Friedensfest in Ostritz Position gegen Nazis bezogen hatte. Nun sorgt sich die »Sächsische Zeitung«, auch er könne sich von der altbekannten »Hasenfüßigkeit« seiner Parteifreunde in der CDU anstecken lassen: »Bloß keine besorgten Bürger verschrecken«!
Nein, die will man tatsächlich nicht verprellen in der CDU, sondern von der AfD zurückgewinnen. Daher der Tweet zur »seriösen« Polizei; daher der Rückhalt für CSU-Mann Seehofer im Streit mit der Kanzlerin um den »Masterplan«, in dem sich Kretschmer mit dem Satz zitieren ließ, es müssten »natürlich« Menschen ohne Aussicht auf Asyl in Deutschland an der Grenze zurückgewiesen werden.
Zugleich versucht sich Kretschmer in schonungsloser Analyse von Fehlern. Von denen muss sich die CDU etliche ankreiden lassen: den dramatischen Lehrermangel in den Schulen, der ebenso der Preis für einen rigiden Sparkurs war wie die personell ausgedünnte Polizei. Im Freistaat, der sich gern als ostdeutsches Musterland feiert, gibt es viele Dörfer, in denen Ärzte, Busse und schnelles Internet fehlen, und Engagierte, die sich von Verwaltungen ausgebremst und in eine linke Ecke gestellt sehen. Kretschmer räumt ein, dass so manches Defizit in der Landespolitik besser schon früher »mit Knall und Peng« auf den Tisch gepackt gehört hätte. Und er versucht die Stimmung zu heben, indem er selbst als »Gute-Laune-Onkel« auftritt und die Sachsen ermutigt, den Freistaat als ein »fröhliches Land« zu begreifen: Man dürfe »bei aller Ernsthaftigkeit und Anstrengung nie die Freude verlieren«.
Man darf indes fragen, ob Kretschmer dieser Tage selbst manchmal die Freude verliert an seinem Job, den die »Zeit« als »einen der unangenehmsten in der deutschen Politik« bezeichnete. Er weiß, dass die Zeit gegen ihn läuft: Landtagswahl ist in einem Jahr; das 1,7 Milliarden Euro schwere Lehrerpaket greift frühestens in drei Jahren. In Umfragen attestieren ihm zwar 59 Prozent der Sachsen, zufrieden oder sehr zufrieden mit seiner Arbeit zu sein. Seine Partei aber profitiert nicht davon, dass er mit dem Füllhorn über Land zieht: Sie rutschte in Umfragen auf inzwischen nur noch 30 Prozent ab. Die AfD liegt derweil nur noch fünf Prozentpunkte zurück; zudem wird nicht ausgeschlossen, dass sie viele Wahlkreise gewinnt - gerade in Ostsachsen, wo auch der Regierungschef sich um ein Landtagsmandat bewirbt. Es drohen viele weitere Magenschwinger.
Kretschmer hat erklärt, dass eine Koalition mit der AfD für ihn nicht in Frage kommt. Womöglich sehen das andere in seiner Partei anders - und sind nicht daran interessiert, dass seine Charmeoffensive zum Erfolg führt. Johannes Lichdi, ein Ex-Landtagsabgeordneter der Grünen, formuliert jedenfalls eine These, die nach der LKA-Affäre, der eklatant falschen Lageeinschätzung der Polizei in Chemnitz und dem geleakten Haftbefehl nicht mehr gänzlich unplausibel wirkt: »Vielleicht«, so fragt er, »eskaliert jemand in der Regierung bewusst, um Schwarz-Blau vorzubereiten?«
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