- Wirtschaft und Umwelt
- Schlechte Löhne
Fachkräftemangel aufgebauscht
Über fehlende Arbeitskräfte klagen vor allem Unternehmen, die schlecht bezahlen und einfache Hilfsarbeiter suchen
Dass der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), Dachverband der regionalen Industrie- und Handelskammern, von rund 1,6 Millionen Stellen ausgeht, die in der deutschen Wirtschaft mangels Fachkräften nicht besetzt werden könnten, machte den Sozialwissenschaftler Eric Seils stutzig. Der Mitarbeiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sah sich die Zahlen und Fakten genauer an und kam zu dem Ergebnis, dass die DIHK-Angaben »widersprüchlich und deutlich überhöht« seien. Ihm sprang ins Auge, dass dieser Wert um gut 60 Prozent über der Zahl von 984 000 lag, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit als sofort zu besetzende offene Stellen für das vierte Quartal 2017 bekanntgegeben hatte.
Seils ermittelte, dass sich die DIHK-Zahlen auf hochgerechnete Umfrageergebnisse unter Mitgliedsbetrieben stützen. Dabei sei allerdings nicht konkret erhoben worden, wie viele Stellen pro antwortendem Unternehmen unbesetzt geblieben waren. Der DIHK habe auch nicht nach längerfristig offenen Stellen gefragt und zudem Bereiche wie etwa die Landwirtschaft, den öffentlichen Dienst oder das Handwerk gar nicht berücksichtigt. »Es bleibt somit unklar, wie der DIHK auf die Zahl von 1,6 Millionen offenen Stellen kommt«, so sein Fazit.
Auch die DIHK-Angabe, wonach 48 Prozent der Betriebe Schwierigkeiten bei der Stellenbesetzung hätten, ist für Seils Ergebnis einer »verzerrten Stichprobe« und deutlich überhöht. So seien darin kleinere Betriebe bis 19 Beschäftigten, die viel seltener neues Personal einstellen, jedoch fast 95 Prozent aller Unternehmen in Deutschland ausmachen, massiv unterrepräsentiert. Ohne diese »Verzerrung« hätten lediglich 33 Prozent der Unternehmen mehr als zwei Monate und damit aus DIHK-Sicht »längerfristig« nach passenden Bewerbern für die Wiederbesetzung einer Stelle suchen müssen.
Der WSI-Forscher betont, dass sich selbst die niedrigere IAB-Zahl von 984 000 offenen Stellen längst nicht nur auf hochqualifizierte Arbeit bezieht, sondern »selbst einfache Helferstellen« darin enthalten sind. Auch aus dem DIHK-Papier gehe hervor, dass abgesehen von den Gesundheits- und Sozialdienstleistungen, für die niemand einen Fachkräftemangel bestreite, vor allem Wirtschaftszweige mit eher niedrigen Qualifikationsanforderungen Arbeitskräfte händeringend suchten, so Seils.
Besondere Probleme mit der Stellenbesetzung haben demzufolge Unternehmen in den Branchen Leiharbeit (83 Prozent), Sicherheitsgewerbe (78 Prozent), Straßengüterverkehr (63 Prozent) und Gastgewerbe (62 Prozent). Im Herbst 2017 seien rund 34 Prozent aller bei der Bundesagentur gemeldeten Arbeitsstellen in der Leiharbeit angesiedelt gewesen, die bundesweit nur 2,8 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Jobs ausmacht. In der Sicherheitswirtschaft wird deutlich, dass der DIHK den Begriff »Fachkraft« sehr weit fasst. So spricht der Report von einem Mangel an »Doormen« (Türsteher in Supermärkten) und an Personal für die Personenkontrolle bei Großveranstaltungen, erläutert Seils. Die Klagen der Unternehmen über einen vermeintlichen Fachkräftemangel seien »umso verbreiteter, je niedriger der Anteil qualifizierter Tätigkeiten in einer Branche ausfällt«, ist sein Fazit.
Seils Erklärung: Unternehmen in Niedriglohnbranchen übten selbst bei guter wirtschaftlicher Lage Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen aus und neigten zu einer Hire-and-Fire-Geschäftspolitik. Weil betriebs- und branchenspezifisches Wissen wenig zählt und die Fluktuation hoch ist, suchten die Unternehmen beständig nach möglichst günstigem Personal, was sich in einer hohen Zahl offener Stellen niederschlage. »Es mangelt hier also nicht an Fachkräften, sondern an Zahlungsbereitschaft«, bringt er die Lage auf den Punkt.
Der Sozialwissenschaftler zieht daraus den Schluss, dass die lautstarken Klagen über ein »Geschäftsrisiko Fachkräftemangel« nur darauf abzielen, den Anstieg der Lohnkosten im Niedriglohnsektor zu dämpfen und sich hierfür auf billige und gefügige Arbeitskräfte aus aller Welt zu stützen. »Das Problem des Fachkräftemangels wird hier über Gebühr aufgebauscht, um das Einwanderungsrecht in sehr einseitiger Weise an die Interessen von Arbeitgebern in Niedriglohnbranchen anzupassen und insbesondere die Lohnentwicklung in der Leiharbeit zu dämpfen«, erklärt Seils.
Als Konsequenz fordert er ein modernes Einwanderungsgesetz, das nicht zum Lohndumping genutzt werden kann. Dafür müsse die Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Staaten an eine konkrete Stellenzusage geknüpft sein. Außerdem dürften Gehaltsschwellen für Hochqualifizierte aus Drittstaaten nicht weiter gesenkt werden. Schließlich sei das deutsche Mindestgehalt für Ärzte, Ingenieure oder Naturwissenschaftler mit rund 40 000 Euro brutto im Jahr im internationalen Vergleich bereits sehr niedrig.
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